Der Duft von Nardenöl…

Predigt vom Palmsonntag, 5. April 2020
von Vikarin Friederike Hoffmann

Gnade sei mit euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt.

Aus ist es mit dem Weg ins Eiscafé. Aus mit dem Weg zum Bummeln. Aus mit dem Weg zu Freunden. Aus ist für viele der Weg zur Arbeit oder zur Schule. Das wäre jetzt mit Ferienbeginn ja vielleicht noch normal, doch es ist jetzt auch aus mit dem Weg in den Urlaub oder zu Familienfesten. Aus ist es auch mit dem Aus-dem-Weg-gehen zu Hause, wenn man plötzlich den ganzen Tag aufeinanderhockt. Und wieder andere finden jetzt noch schwerer einen Ausweg aus der Einsamkeit.
Kurz: wir befinden uns gerade wortwörtlich in einer Zeit der Ausweglosigkeit. Ausweglosigkeit für uns alle zu Hause. Und noch viel schlimmer: Ausweglosigkeit für viele, die jetzt in existenzieller finanzieller Not sind. Ausweglosigkeit für tausende Menschen auf der Flucht, die weder hin noch zurück können. Ausweglosigkeit leider auch für viele der Erkrankten: die Krankheit führt für zu viele ausweglos zum Tod.

Wir haben heute den Palmsonntag. Nur noch wenige Tage, dann ist Karfreitag. Auch der Weg vom Palmsonntag, von dem Tag, an dem Jesus noch mit Palmzweigen und Gesang in der Stadt Jerusalem empfangen wurde, bis hin zum Karfreitag ist ein Weg ohne Ausweg. Ja, Jesu Weg führt zum Kreuz. Ohne Ausweg. Die Verantwortlichen haben bereits beschlossen, ihn zu töten. Sie überlegen nur noch, wie und wann. Jesu Leben wird am Kreuz enden. Bald. Ohne Ausweg.

Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der ungesäuerten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten. Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.

Markus 14,1-2

Die Verantwortlichen beratschlagen: nur noch zwei Tage bis zum Passafest, davor muss es geschehen. Ja, wir als Leser und Hörer dieser Szene haben es schon vor Augen: den nächsten Tag, an dem Jesus gefangen genommen, verurteilt und gekreuzigt wird; wir sehen schon die Ausweglosigkeit, in der Jesus sich da befindet.Und Jesus? Der isst. Nicht weit entfernt von Jerusalem in Betanien liegt er zu Tisch bei Simon, Simon dem Aussätzigen. Ich stelle mir vor, wie sie dort essen und lachen und sich Geschichten erzählen, vielleicht vom großen Passafest in Jerusalem der letzten Jahre. Doch von der Ausweglosigkeit, in der Jesus sich gerade befindet, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand was. Bis…

Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und lag zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.
Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte: sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

Markus 14,3-9


Eine Frau betritt den Raum. Ruhig geht sie auf Jesus zu. Da gibt es einen lauten Schlag. Stille. Alle Augen wenden sich zu der unbekannten Frau. Sie steht hinter Jesus und hat noch das zerbrochene kleine Gefäß aus milchig, weißlichem Alabasterstein in der Hand. Und während das Öl sich ganz sacht über das Haar von Jesus ausbreitet, durchströmt ein intensiver Duft den Raum. Es ist ein eigenwillig erdiger Duft, etwas bitter, etwa wie Baldrian, mit einer leichten Süße. Nardenöl. Ja… der bittere Duft liegt schwer in der Luft. Als ob das, was am nächsten Tag kommen wird, schon jetzt vorweggenommen wird. Ja, man kann plötzlich den bitteren Schmerz und alles bittere Weinen der nächsten Tage riechen.

Mich berührt diese Frau. Mich berührt, wie sie da steht mit dem zerbrochenen Gefäß in der Hand mitten in dem bitteren Geruch. Sie verkörpert für mich die Ausweglosigkeit. Ich stell mir vor, wie sie heute mit dem zerbrochenen Gefäß ganz ruhig da stehen würde vor jeder Tür eines Geschäftes, eines Restaurants oder einer kleinen Firma, dessen Inhaber in existentielle Not geraten sind. Wie sie da stehen würde vor jeder Tür, wo ein Mensch verstorben ist. Vor jeder Tür, wo drinnen die Fetzen fliegen, weil man sich nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Wie sie da stehen würde vor jeder Tür, wo jemand vor Einsamkeit vergeht. Ja sie steht mit dem zerbrochenen Gefäß ebenso mit Fliehenden, deren Hoffnungen zerbrochen sind, an geschlossenen Grenzen, wie hier an unseren Häusern. Und ich selbst geh spazieren bei diesem wunderschönen Wetter und habe diese Frau vor Augen und spüre plötzlich, was es tatsächlich bedeutet, diese Zeit der Ausweglosigkeit. Und das berührt und schmerzt mich.

Doch mit dem Geruch von Nardenöl liegt nicht nur Bitterkeit in der Luft, da ist noch etwas anderes: Linderung, Beruhigung und Heilung. Ja, Nardenöl wird zugesagt, dass es Angst lindert und beruhigt; und es wird verwendet, um Wunden zu heilen. Wie unglaublich stimmig, dass es am Tag vor Jesu Tod gerade Nardenöl ist. Es wird Jesus gut getan haben. Ja, zu dem Duft der bitteren Vorahnung tritt etwas, was dem entgegen steht, diesem bitteren Tod: Linderung. So sehr die Frau mit dem zerbrochenen Gefäß hinter Jesus die Ausweglosigkeit verkörpert, so sehr setzt sie dem ganzen großen ausweglosen Weg Jesu zum Tod setzt diese Frau auch etwas entgegen und zwar unverfälschtes, kostbares Nardenöl.
Und so steht diese Frau nicht da, um Angst zu machen oder damit die Jünger am Tisch und wir heute endlich kapieren, was wirklich los ist. Sie gibt dieses kostbare, unverfälschte Nardenöl, um etwas entgegen zu setzen. Sie versucht mit diesem Öl, die Angst zu lindern, die vielleicht jetzt schon da ist, und die Wunden zu heilen, die noch kommen werden.
Und gerade darin spüre ich schon etwas von Ostern: in der Linderung eine Spur von Gottes großer Liebestat, der ein für alle mal, dem Tod das Leben entgegengesetzt hat. Und eben das macht mir Mut und Hoffnung. Mit Blick auf Gott wird mir im Handeln der Frau klar: egal, wie bitter und egal wie ausweglos es scheint oder ist, es gibt etwas, was dagegen steht, nämlich Gott. Gott lindert Angst und heilt Wunden und in seinem Geist kann die Frau Angst lindern und Wunden heilen. Und so liegt für mich in dem Handeln der Frau Evangelium, die frohe Botschaft, von der Jesus sagt: “Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, wird man auch von dem sprechen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.”

Ich spüre, wie diese Frau aus eben diesem Oster-Geist Gottes heraus gehandelt hat: ihr Handeln war im wörtlichen Sinne“geistesgegenwärtig”; sie war mit ihrem Geist ganz in der Gegenwart, hat den Moment gespürt, wahrgenommen und ernst genommen; sie war im Geiste ganz beim Gegenwärtigen, ganz beim Anderen, bei Jesus; und sie hat in sich Raum gehabt für Gottes Geist und seine Gegenwart.
Sie hat nicht, wie die anderen am Tisch gefragt: Was hätte man denn noch alles machen können mit diesem Öl? Ist es nicht viel mehr im Sinne Gottes gehandelt, wenn man es verkauft und das Geld den Armen gibt? Vielleicht. Doch hätte man am Tisch vorher darüber abgestimmt, hätten sie vermutlich diese Frage im wörtlichen Sinne “zu Tode diskutiert”. Bis der Moment verpasst und Jesus nicht mehr bei ihnen ist.
Die Frau dagegen spürt geistesgegenwärtig den Moment und handelt.

Ich frage mich, wer heute so geistesgegenwärtig im Geist Gottes handelt… Ich denke es sind nicht die, die alles hin und her wenden und langfristige Pläne entwerfen. Die handeln nächste Woche oder in ein paar Monaten oder auch nie. Die Menschen sind geistesgegenwärtig, die in dieser Zeit die Ausweglosigkeit sehen. Und zwar nicht nur die abstrakte Ausweglosigkeit, wie sie in angstmachenden Krankheitsstatistiken und rechtlichen Ausgangsbeschränkungen Ausdruck findet. Sondern geistesgegenwärtig sind und “sehen wie diese Frau” tun die Menschen, die ganz konkret bei Nachbarn, Familie, Freude, Kranken und Gesunden die Ausweglosigkeit sehen und handeln. Wie auch die Frau nicht im Fernsehen über Ausweglosigkeit gesprochen hat, sondern auf geradem Wege zu Jesus gegangen ist, hingespürt hat, Ausweglosigkeit geahnt und ihr etwas entgegen gesetzt hat.
Ich denke, die Menschen sehen handeln geistesgegenwärtig wie diese Frau, die bei anderen anrufen und nachfragen “Wie geht es dir?” oder einen lieben Brief oder eine aufmerksame WhatsApp-Nachricht schreiben; die zu Hause nicht nur die eigene Ausweglosigkeit sehen, sondern auch die von denen, die da auf engem Raum mit ihnen zusammen leben; die Menschen handeln im Geist Gottes, die für andere einkaufen gehen. Die Menschen verändern im Geist Gottes den Duft der Stunde, die die Fenster öffnen und zusamme Musik machen oder zusammen Ärzten und Pflegepersonal applaudieren.

Im Geist Gottes handeln die Menschen, die der Ausweglosigkeit etwas entgegensetzen. Nicht “im Kampf” gegen die Ausweglosigkeit, sondern aus Liebe, wie diese Frau, die so ein gutes Werk an Jesus getan hat. Jesus sagt über sie: “Sie hat getan, was sie konnte!”

Auch heute spüre ich an vielen Orten und bei vielen Menschen den Geist Gottes. Trotz allem. Und so habe ich Hoffnung, dass diese Zeit doch keine ausweglose Zeit ist, so sehr sie auch viele Auswege verschließt, vor allem die gewohnten. Ich habe Hoffnung, dass Gottes Geist des Lebens schon gerade im Moment diese Zeit durchweht und wir alle im Spüren auf seinen Geist neue Wege finden werden. Ich habe Hoffnung, dass in Gottes Gegenwart und in unserem Tun auch im Zerbrochenen und Bitteren Heilung und Leben liegen kann.

Der Friede Gottes, der höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vikarin Friederike Hoffmann