2. Fastenpredigt

Thema: “Freiheit”

mit Pfr. Dr. Johannes Wachowski, Johanniskirche Lauf 2025
Predigttext Johannes 6,47-51

Das Predigtwort für den heutigen Sonntag Lätare steht im Johannesevangelium im 6. Kapitel. Es ist der Schluss der Brotrede Jesu. Der Evangelist Johannes schreibt (6,47-51):
Jesus Christus spricht: „47 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. 48 Ich bin das Brot des Lebens. 49 Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. 50 Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. 51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt.“

Herr, segne unser Reden und Hören durch deinen Heiligen Geist. Amen.

Liebe Gemeinde!

Machen wir Brotzeit.
Der Sonntagmorgen von Lätare ist eine gute Zeit dafür.
Denn das Predigtwort spricht sogar vollmundig von einer himmlischen und ewigen Brotzeit. Jesus sagt in ihm: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“
Also: Machen wir Brotzeit.

Liebe Schwestern und Brüder!
Als kleiner Junge war die Brotzeit mit meinem Opa ein bisschen Himmel auf Erden.
Brotzeit mit dem Opa Hans war fast eine kleine heilige Zeit.
Mein Opa hatte nur noch wenige Zähne, sodass er das Brot klein einschnitt.
Alles wurde fast in Zen-Manier klein geschnitten, wenn es z.B. Stadtwurst mit Musik gab.
Ich machte mit, meine Opa erzählte Geschichten.
Gemeinsam bereiteten wir eine Brotzeit, die nur mit ihm, nur an diesem Ort, nur in dieser Zeitlichkeit, nur in diesem Arrangement so gut schmeckte.
Das kennt Ihr vielleicht alle, dass es bei der Oma und dem Opa noch einmal anders oder besonders gut schmeckte.
Die einfache Brotzeit bedeutete nicht nur Freiheit gegenüber vielen kindlichen Konsumwelten. Milchschnitten gab es damals zum Beispiel noch nicht.
Das Produkt Kindermilchschnitte wurde erst 1978 auf dem deutschen Markt eingeführt.
Und das Essen schmeckte nach viel mehr: nach Füreinanderdasein, nach Langsamkeit, nach Bleiben, nach Aufmerksamkeit, nach Geschichte, auch Familiengeschichte, nach der Liebe von Großvater- und Großmutter usw.
Ihr merkt schon. Brotzeit ist etwas Wunderbares.
Kein Wunder also, dass Jesus in die Welt des Brotes einkehrt, um seine Bedeutung zu unterstreichen: „51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“
Der Jude Jesus hat die Bedeutung der Speisen und des Speisens bestimmt auch von seiner Bibel gelernt. In den Schriften seins Volks heißt es ja z.B.: Besser ein Gericht Gemüse mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass. (Sprüche 15,17)
Essen ist mehr als die Aufnahme von Nährstoffe.
Das macht das ganze 6. Kapitel des Johannesevangeliums, die sogenannte Brotrede, klar.
Sie kulminiert dann in dem Brot des Heils. Sie kulminiert in unsere heutigen Predigtwort.

Liebe Gemeinde!
Machen wir Brotzeit! Haben wir gesagt. Und wir schon ein gesehen, wie wichtig Orte, Zeiten und Menschen dafür sind.
In Deutschland spielt das Brot eine besondere Rolle.
„Brot gibt es in nahezu jeder Kultur auf der Welt. Die Art und Weise, wie es hergestellt und konsumiert wird, variiert aber erheblich, man denke nur an französisches Baguette, israelisches Pita-Brot, indisches Naan, die mexikanische Tortilla oder Damper, ein Busch-Brot der Aborigines aus Australien.
Allein in Deutschland soll es über 3.200 registrierte Brotsorten geben. 2014 nahm die nationale UNESCO-Kommission die deutsche Brotkultur in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland auf.
Laut dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks kauften im Jahr 2023 die privaten Haushalte 1.616.000 Tonnen Brot: »Die Käuferreichweite für Brot lag bei 97,6%, das heißt von 1.000 Haushalten in Deutschland kauften 976 im Jahr 2023 mindestens einmal Brot. Dieser Wert ist seit Jahren weitgehend stabil.« (Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks)
Brot ist ein Grundnahrungsmittel: Für viele Menschen gehört Brot zur täglichen Ernährung dazu. Das verleiht der Aussage von Jesus, dass er das »Brot des Lebens« sei, eine besondere alltägliche Relevanz und existenzielle Tiefe.“ (Wenig, 164)
Wo also anders als in Deutschland könnte das Ich-bin-Wort Jesu, das Wort „Ich bin das Brot des Lebens“ besser verstanden werden: Im Land des Brotes, könnte man fast sagen.
3200 registrierte Brotsorten gibt es hier. Viel zu Essen.

Liebe Gemeinde!
Wir wollen nur von drei Brotsorten sprechen.
Alle drei sind biblische Erzeugnisse.
Alle drei haben mit der Freiheit zu tun.
Alle drei weisen uns einen Weg in die Freiheit.
Und der Lieddicht stimmt ein, wenn wir nun in das Haus der Bibel einkehren und dichtet schön:
„Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, er nährt und gibet Speisen zur Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem Mahl; und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual!“
Also, auf ihr lieben Seelen von Lauf. Laßt uns ins Lokal der Bibel einkehren.
Und mit diesem Liedvers „Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, er nährt und gibet Speisen zur Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem Mahl; und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual!“ sind wir gleich bei der ersten Brotsorte.
Es ist das Brot der Freiheit. Diese Brotsorte geht auf das jüdische Passafest zurück.
Beim Passafest sitzen Jüdinnen und Juden nach der Synagoge im Haus zusammen und feiern den sogenannten Seder, eine Hausliturgie mit allen Sinnen. Im Laufe des Seders wir gelesen und getrunken, gegessen und gesungen, gelacht und gedacht. Und es werden Mazzen, das ungesäuerte Brot gegessen.
Das häusliche Fest wir mit dem Verzehr der ersten Mazza eröffnet. Und es wird gesagt:
Dies ist das Brot des armen Mannes, das unsere Vorfahren im Land Ägypten gegessen haben..“ Diese erste Verkündung konzentriert sich auf die Mazza als Symbol für die Armut, die das jüdische Volk während seiner Sklaverei in Ägypten erlitten hat.
Später in der häuslichen Liturgie heben Judinnen und Juden dann die Mazze wieder auf und sie konzentrieren sich auch auf die Tatsache, dass die Mazze gegessen wurde, als Gott das Volk Israel aus Ägypten geführt hat. Diese Mazze wird dann als Brot der Freiheit gegessen.
Deinen dreifachen Geschmack hat dieses Brot der Freiheit.
Zuerst lehrt es und, dass der Weg in die Freiheit nicht viel Materialität braucht.
Wasser und Mehl. Auf keinen Fall Hefe. Einfach, klar und schnell.
Das Brot der Armut, wird dann zum Brot der Freiheit.
Und ein katholischer Theologe, Tomas Halik, schärft uns ja wieder und wieder ein, dass das Problem der Kirche nicht der Atheismus oder die Ungläubigkeit sind, sondern ein dumpfer Konsumismus und unbändiger Materialismus der westlichen Welt.
Das wussten die Bettelorden, dass wussten viele Theologen, dass sich nur eine arme Kirche erneuern kann. Und vielleicht ist es sogar gut, dass die große Konsum- und Steuerparty, dass die dagobertinische Phase der Kirche, wie das genannt wurde, bald aus ist.

Liebe Gemeinde!
Neben der Gewürzmischung von Armut und Freiheit, lehrt uns das Brot der Freiheit noch etwas. Freiheit ist für uns Gläubige immer etwas Gegebenes, etwas Verdanktes, etwas göttlich Initiiertes.
Gewaltig wird das in der biblischen Exodusgeschichte erzählt: Plagenerzählungen und göttliche Demütigung der Mächtigen, Wegweisung mit göttlicher Wolken- und Feuersäule, göttliche Errettung vor den Feinden und die Wüste als göttlicher Ort der Offenbarung.
Die Freiheit des Volkes Israel ist also das Geschenk des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Die Freiheit des Volkes Israel ist also das Geschenkt des Gottes Saras, Rebekkas, Rahels und Leas.
Und noch etwas lernen wir aus der Geschichte des Brotes der Freiheit.
Die Befreiung wir nicht als Triumphalismus gefeiert.
Das Jüdische und das biblische Israel werden immer wieder sozialethisch daran erinnert, dass man selbst Sklave war und in Armut lebte. So zum Beispiel bei vielen Begründungen der Gebote. Im wichtigsten Buch der Bibel, dem dritten Buch Mose heißt es z. B. (3. Mo0se 19):
„33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“
Und natürlich kennt der pharisäisch geschulte Völkerapostel dieses Denken, wenn er der römischen Gemeinde einschärft (Römer 12,15). „Freut euch mit den Fröhlichen! Weint aber auch mit den Trauernden!“

Liebe Gemeinde!
Biblische Freiheit ist also immer auch eine göttlich gesetzte, wenn ihr so wollt, metaphysisch gegründete Freiheit.
Und biblische Freiheit wird immer auch eine Freiheit zu etwas.
So denkt das die Bibel: Freiheit ist immer eine Freiheit zu etwas, für etwas, eben verdankte Freiheit.
Und von dieser so gründeten Freiheit ist man frei, etwas frei und souverän in der Welt zu tun. Zum Beispiel die Gebote Gottes zu halten!
Nur geschenkte und verdankte Freiheit ist wirklich frei. Das lehrt das Brot der Freiheit.
Das ist etwas völlig anderes als es der Sponti-Spruch „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“ intoniert. Und dann frißt die Revolution ihre Kinder.
Das ist etwas völlig anderes als der Freiheitanspruch der Autokraten, amerikanischer, russischer oder chinesischer Provenienz. Und dann werden sich diese Ansprüche der Autokranten gegenseitig nivellieren.
Das ist etwas völlig anderes als die Rautenfreiheit, wo Deutschland im Grunde in eine vermeintliche Schlafwagenfreiheit eingelullt wurde. Und jetzt müssen wir um unsere Freiheit kämpfen, wie es der Kritiker des Islam Hamed Abdel-Samad in seinem Buch „Preis der Freiheit“ schreibt.
Aber werden wir nicht zu politisch.
Kommen wir lieber zur zweiten biblischen Brotsorte, wenn man das Manna heute mal so als Ersatzbrot bezeichnen darf.
Nach den Mazzen, das Manna und damit das Sabbatbrot.
Im Predigtwort heißt es ja: „49 Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. 50 Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe.“
Im Ort der Offenbarung, der Wüste, nährte Gott sein Volk mit Manna.
In der jüdischen Tradition wird gelehrt, dass das Manna, das über 40 Jahre in der Wüste geben wurde den Israeliten Zeit gab, das Wort Gottes zu lernen. Ohne die Sorge um das tägliche Brot konnte also die Tora studiert werden, also die Gebote und Lebensweisen jüdischen Lebens (Wenig, 164).
Und das wäre was, wenn die Kirchen wieder anfingen das Wort zu lernen und zu studieren!
Und der Pastor ein Pastor legens wäre. Und nicht ein pastor theatralicus und dergleichen mehr.
Am Schabbat werden dann zwei Sabbatbrote gebacken.

Eben weil Gott schon in der Bibel immer doppelte Ration gab.
Damit konnte die Freiheit des Schabbats ganz Gott gewidmet werden.
Das ist ja das beste Schöpfungsprodukt des Schöpfungsprodukt: Gott hat am siebten Tag das aller Beste geschaffen. Zeit für Gott. Eine sabbatliche Kultur!
Und das kann man schön beobachten, wenn wir mit Jüdinnen und Juden den Schabbat feiern.
Da wird richtig Brotzeit gemacht. Da wird richtig mit den Kindern getafelt und gespielt.
So sage ich mir, hatte mein Essen mit meinem Großvater fast etwas sabbatliches.
Im Grunde war das ein Moment einer sabbatlichen Kultur mitten in einem einfachen christlichen Haushalt. Einer Kultur der Unterbrechung und deshalb der Freiheit.
Daran erinnert ja das Sabbatbrot und der Segen über das Brot: Wir sind Kinder Gottes.
Eben nicht verzweckt als Arbeits-, Konsum- Steuer- und was weiß ich für -Sklaven.
Wir sind frei Geschöpfe des Höchsten, der die Gotteszeit geschenkt hat, die Brotzeit des Himmels auf Erden.

Liebe Gemeinde!
Zweimal haben wir schon Brotzeit gemacht.
Mit dem Brot der Freiheit von der in Gott gegründeten Freiheit gehört.
Mit dem Ersatzbrot des Mannas von der Freiheit einer sabbatlichen Kultur.
Und zum Schluss zum Brot des letzten Mahles Jesu: Brot der Ewigkeit. Eine Brotzeit ewigen Heils.
Nur die letzten Brotzeit befreit und von der Vergänglichkeit.
Johannes schreibt ja:
„47 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. 48 Ich bin das Brot des Lebens. 9 Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. 50 Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. 51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“
Das Abendmahl ist für uns die Brotzeit auf den Weg in die Ewigkeit.
Als Pilger kosten wir mitten in der vergänglichen Zeit von der Ewigkeit.
Liebe Schwestern und Brüder: Wichtig ist, dass wir unser Leben in Christus gründen, im Brot des Lebens.
Das macht uns frei von der Welt.

Ja, manchmal frage ich mich, ob die Christinnen und Christen deshalb mehr Frei-von- Etwas- Leben als Jüdinnen und Juden ihr religiöses Leben immer als „Frei-zu-etwas“ gestalten.
Ja, manchmal frage ich mich, ob das Christentum deshalb mehr Lebensverzicht und Askese hervorgebracht hat als das Judentum lebenszugewandt, witzig und fröhlich lebt.
Ja, manchmal frage ich mich, ob bei uns deshalb die Orthodoxie und dort die Orthopraxi eine so große Rolle spielen.
Aber das ist vielleicht zu holzschnittartig.
Wir wollen ja nicht, dass aus der Brotzeit eine plumpe Stammtischjause wird.
Liebe Gemeinde!
Gehen wir heute nach Hause von der Brotzeit mit Geschmack verdankter Freiheit.
Mit der Gewürzmischung Armut-Freiheit.
Mit einer sabbatlichen Esskultur und Christus als Brot des Lebens, als Befreier und Retter.
Luther hatte tiefste Erfahrungen der Freiheit beim Studium der Heiligen Schrift gemacht.
Hier hat sich ihm die christliche Freiheit in ihrer ganzen Tiefe erschlossen.
Zur Freiheit hat uns Christus befreit, hat Luther im Brief des Apostel Paulus gelesen.
Und das bedeutete für Luther eine Theologe des Kreuzes. Der gekreuzigte und auferstandene Christus ist der Grund seiner Freiheit. Das Wort vom Kreuz hat Luther wieder und wieder verkostet. Es war seine Leibspeise. Eine ewige Brotzeit mit dem Wort vom Kreuz!
Und warum nicht nach Hause gehen und nochmals Brotzeit gemacht.
Mit dem Wort vom Kreuz. Also gesegnete Mahlzeit und Freiheit!
Amen!

Kanzelsegen: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Gemeinde: Amen.

3. Fastenpredigt

“Freiheit, Selbstbestimmung und Hingabe – was kann die Psychiatrie und Psychotherapie hierzu beitragen”

mit Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Johanniskirche Lauf 2025
Predigttext Johannes 18,28-19,5 – Ein scheinbar wehrloser König

Liebe Mit-Christinnen und Mit-Christen,

wir befinden uns in der Fastenzeit – einer Zeit der Reflexion, des Verzichts und der inneren Neuausrichtung. Es ist eine Zeit, in der wir uns fragen (insbesondere angesichts der weltpolitischen Umbrüche): Wie frei sind wir eigentlich – und wie lange noch? Was bedeutet es, frei zu sein? Was heißt es, wahrhaft frei zu sein?
Ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium zeigt uns eine zutiefst paradoxe Situation: Jesus steht vor Pilatus, er ist gefangen, misshandelt, verspottet – was hat das mit Freiheit zu tun?

Hören wir den Text aus Johannes 18,28 – 19,5:
„Sie führten Jesus von Kajaphas zum Prätorium; es war früh am Morgen. (…) Pilatus ging zu ihnen hinaus und sagte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen? (…) Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. (…) Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. (…) Pilatus trat wieder hinaus und sagte: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Jesus kam heraus, trug die Dornenkrone und den Purpurmantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch!“

Ein bedrückender Text, wie ich finde, aber gleichzeitig ein schockierend aktueller! Ich denke hier sofort an die ungerechten Verhaftungen von Regimegegnern, die wir derzeit wieder zuhauf erleben. Und es fällt mir Dietrich Bonhoeffer ein, der ebenfalls hätte fliehen können, der es stattdessen als seine Aufgabe sah, freiwillig im Land zu bleiben – und damit ins Konzentrationslager und schließlich den Tod zu gehen. Was für ein Mensch!
Jemand der äußerlich vollkommen unfrei ist, entscheidet sich bewusst und innerlich frei, seiner Berufung zu folgen, auch wenn sie in den Tod führt, vielleicht um ein Zeichen zu setzen, dass die innere Freiheit nie zu beschränken ist durch äußeren Zwang. Eine Selbstaufopferung aus einer Mission heraus – also für andere, für uns – wie bei Jesus.
Auf der anderen Seite sehen wir in der Psychiatrie und Psychotherapie immer wieder Menschen, die aus Selbstaufopferung ins Burnout gerutscht sind, sie sind meist schwer depressiv und wollen manchmal nicht mehr leben. Was ist hier der Unterschied zum vorigen Fall? Jemand der äußerlich vollkommen frei ist, wird innerlich von solch massiven Zwängen, Unsicherheiten und Abhängigkeiten geplagt, dass er nicht mehr nein sagen kann, wenn es darum geht, auch mal eine Pause einzulegen, oder den pflegebedürftigen Angehörigen einmal in die Kurzzeitpflege zu geben, oder dem Chef in der Arbeit gegenüber nein zu sagen, wenn er weitere Arbeit in der Freizeit und am Wochenende einfordert. Wo kommt diese innere Unfreiheit her? Manchmal aus schlechtem Gewissen, aus eingeimpften Schuldgefühlen oder übertragenden Leistungsansprüchen. Manche fühlen sich nur gemocht, wenn sie Übermenschliches leisten, manche erhoffen sich endlich Lob und Liebe von den Eltern zu bekommen, auch wenn diese vielleicht schon tot sind. Dann fällt mir oft der Spruch Jesu ein, „der Lahme kann nicht dem Kranken helfen“. Er verlangt also diese Form der Selbstaufopferung gar nicht von uns.
Fassen wir zusammen: es gibt auch äußere Unfreiheit bei maximaler innerer Freiheit und maximale äußere Freiheit bei vollkommener innerer Unfreiheit.

Was ist überhaupt Freiheit und wie hängt sie mit Selbstbestimmung und Selbst-Verantwortung zusammen?

1. Freiheit – die Basis eines gleichschenkligen Dreiecks

Freiheit bedeutet im Kern die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen. Sie kann sich auf äußere Umstände (z. B. politische oder finanzielle Freiheit) oder innere Prozesse (z. B. Angst-Freiheit, Willensfreiheit) beziehen.
Ein depressiver Mensch mag äußerlich alle Freiheit der Welt haben – doch in seinem Inneren fühlt er sich wie in einem Gefängnis. Jemand mit einer Angststörung vermeidet bestimmte Situationen, weil sie ihn zu sehr überfordern. Ein Suchtkranker erlebt den bitteren Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und dem Zwang seines Verlangens. Und wir alle kennen die inneren Kämpfe zwischen dem, was wir eigentlich wollen, und dem, was wir aus Angst, Bequemlichkeit oder Gewohnheit tun.

Freiheit lässt sich also auch unterscheiden in:

Negative Freiheit: Freiheit von äußeren und inneren Zwängen (z. B. keine Diktatur, keine Bevormundung, keine befehlenden Stimmen im Kopf). Oder:

Positive Freiheit: Freiheit zu – also die Fähigkeit, das eigene Leben bewusst zu gestalten, also über sich selbst zu bestimmen.
Freiheit ist dabei die Voraussetzung für Selbstbestimmung – aber allein, als Freiheit an sich ist sie noch nicht sinnvoll. Ohne Reflexion kann sie in Willkür, Egoismus oder sogar in die Selbstzerstörung führen.

2. Selbstbestimmung – die Ausgestaltung der Freiheit

Selbstbestimmung bedeutet, das eigene Leben bewusst und reflektiert zu gestalten – auf der Grundlage der eigenen Werte, Bedürfnisse und Überzeugungen.

Sie setzt Freiheit voraus, denn man kann sich nur selbst bestimmen, wenn man auch entscheiden darf.

Sie erfordert aber auch innere Reife, z. B. die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbstkritik, Impulskontrolle und Perspektivübernahme.

Psychisch gesunde Menschen können in der Regel selbstbestimmt handeln, davon gehen wie aus. Bei schweren psychischen Erkrankungen (z. B. Psychosen, Manien, schwere Depressionen) kann diese Fähigkeit eingeschränkt sein – und dann müssen andere (z. B. Ärzte, Angehörige, rechtliche Betreuer, Richter) über uns in der Krankheit entscheiden. Wir sprechen von Fürsorge. Sie muss engen Grenzen folgen und durch gesellschaftlich festgelegte Regeln (also Gesetze) beschränkt sein. Der sog. natürliche Wille, sich in der Psychose nicht behandeln zu lassen, und den befehlenden Stimmen zu folgen, z.B. sich umzubringen, darf nicht über dem sog. freien Willen stehen, der ohne Krankheit zu einem selbstverantworteten Leben befähigen würde. Es geht also darum, durch – vorübergehenden und maßvollen Zwang zur Behandlung – den krankheitsbedingt verschütteten freien Willen wiederherzustellen. Schwierig – aber nötig – und möglich. Bei ethisch schweren Abwägungen haben wir mittlerweile auch die Möglichkeit geschaffen, ein unabhängiges Ethik-Konsil einzuholen.
Damit sind wir beim Begriff der Verantwortung angekommen, dem 3.Schenkel unseres Dreiecks nach Freiheit und Selbstbestimmung.

3. Verantwortung – die Konsequenz

Verantwortung bedeutet, für die Folgen des eigenen Handelns einzustehen – gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Gesellschaft.

Wer frei ist und sich selbst bestimmt, trägt auch Verantwortung.
Aber wie oft fliehen wir vor dieser Verantwortung! „Ich kann nichts dafür, so bin ich halt.“ „Es ist mir zu anstrengend, mich zu verändern.“ „Die anderen sind schuld an meiner Situation.“ Doch Verantwortung übernehmen bedeutet, dass wir uns nicht nur als Opfer unserer Umstände betrachten. Machen wir uns klar: Wir haben immer eine Wahl!

Verantwortung macht deutlich, dass Freiheit nicht grenzenlos sein kann – denn sie endet dort, wo die Freiheit anderer verletzt wird.

In einer ethisch orientierten Gesellschaft ist Freiheit nie Selbstzweck, sondern immer auch in Beziehung zu anderen zu verstehen. Es besteht eine Verantwortung für das Gemeinwohl, die Fürsorge füreinander.
Fürsorge darf aber auch nicht ausgenutzt werden von autoritären Staaten, die Oppositionelle und Andersdenkende sowie psychisch Kranke ausgrenzen, wegsperren und psychiatrisieren.
Lassen Sie mich wieder zusammen: Wie ist das Zusammenspiel zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung?

Freiheit bedeutet, nicht beschränkt zu sein durch etwas oder für etwas.

Freiheit ermöglicht Selbstbestimmung.

Selbstbestimmung ohne Freiheit ist eine Illusion.

Freiheit ohne Verantwortung wird zu Egoismus.

Verantwortung ohne Freiheit führt zu Fremdbestimmung oder autoritärem Zwang.
In einer menschlichen, gerechten und seelisch gesunden Gesellschaft gehören alle drei zusammen – wie drei Seiten eines stabilen Dreiecks

Wie erreicht man nun innere, geistige Freiheit und wie kann uns die Psychiatrie und Psychotherapie dabei helfen?

Das Ziel vieler unserer Therapien ist klar: Freiheit und Selbstbestimmung wiederherzustellen, wenn sie durch Krankheit eingeschränkt sind.
Hierzu können wir mittlerweile auf eine Vielzahl von biologischen Mitteln zurückgreifen wie Medikamente, Hirnstimulationsverfahren, physikalische Reize oder Schlafphasenverschiebungen. Wir greifen also direkt und indirekt in den Gehirnstoffwechsel ein, um krankheitsbedingte Folgen zu normalisieren.
Heißt das, unser Denken ist nur ein Produkt unseres Gehirns, der Geist kann also gar nicht frei sein?
Ja, sagt die moderne Neurowissenschaft, wir sind physikalisch-biologisch determiniert, ein Produkt aus Strahlen, Atomen und Stromflüssen sowie von Zellteilung, Hormonen und Signalübermittlung. Machen wir die Probe: Überlegen Sie, ob ein umfallender Baum ein Geräusch macht, wenn sie viele Kilometer entfernt sind! Wer sagt ja, wer sagt nein? Farben gibt es ebenfalls nicht in der Natur.
Unser Gehirn erschafft unsere Welt, wir bekommen in einer Art Tunnel die Illusion einer Welt vorgespielt, eines Ichs und eines Bewusstseins des Ganzen. Der Philosoph Thomas Metzinger spricht von einem Ego-Tunnel in seinem gleichnamigen Buch. Unsere Wahrnehmung ist prediktiv, also vorhersagend, wir bekommen aus dem Gedächtnis also schon den vorhergesagten nächsten Moment als Ist-Zeit-Erleben eingespielt. Wenn wir gedankenversunken die Straße entlanggehen, merken wir dies nur, falls wir stolpern, denn dann ist ein Vorhersagefehler passiert. Wer von Ihnen hat sich noch nicht schon einmal gewundert, dass er oder sie minutenlang Auto gefahren ist, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Unser Gehirn steuerte uns unbewusst, während wir uns einem Gedankenfluss hingegeben haben, den wir meistens ebenfalls nicht initiiert hatten. Das Gehirn hat ausgerechnet, dass das Körperbudget nach mehr Glucose-Zufuhr ruft für die beabsichtigte Autofahrt und hat Hungergefühle eingespielt, ein wenig unangenehm gefühlsmäßig gefärbt, im Bauch lokalisiert und außerdem Gedanken an die Nahrungsbeschaffung verbunden mit der Angst, es nicht rechtzeitig zum Einkaufs-Laden zu schaffen, bevor er schließt. Alles eingespielt. Was ist daran frei? Also sind wir determiniert?
Die Frage nach der Freiheit und einer möglichen Vorbestimmung ist so alt wie die Menschheit und die Philosphiegeschichte selbst. Vor genau 500 Jahren 1525 verfasste hierzu Martin Luther – wie Sie wissen, feiern wir dieses Jahr auch 500 Jahre Reformation im Nürnberger Land – seine berühmte Schrift „De servo arbitrio“ („Vom unfreien Willen“), als Antwort auf den Humanisten Erasmus von Rotterdam, der die Lehre vom freien Willen vertrat. Luther widersprach entschieden: „Der menschliche Wille vermag nichts als sündigen.“ Luther sah den Menschen als nicht fähig an, aus eigener Kraft das Heil zu erlangen („verderbt“). Sein Wille sei durch die Sünde so sehr gebunden, dass nur Gott ihn befreien könne. Der Mensch sei also nicht wirklich frei in seinen Entscheidungen, sondern stehe immer unter einem Einfluss – entweder der Gnade Gottes oder der Macht der Sünde.
Manche sahen in dieser Lehre einen radikalen Determinismus: Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, ist er dann überhaupt verantwortlich für sein Handeln? Das gleiche gilt für den neurowissenschaftlichen Determinismus. Kann eine Gesellschaft überhaupt jemanden bestrafen, wenn es gar keine Schuld gibt?
Wie kommen wir hier nun zu einer Lösung? Gibt es doch einen freien Willen?

Evolutionsbiologisch brachte es dem Menschen Vorteile, abstrakte Begriffe zu entwickeln wie Freiheit, Schuld, Gemeinsinn oder Liebe. Dadurch konnten sich Gesellschaften bilden, die gemeinsam besser überleben konnten. Der Ego-Tunnel ist also vernetzt, d.h. es gibt sich verzweigende Röhren. Und wie die Evolution ein lernendes System ist, so können wir innerhalb dessen auch erziehen und therapieren – und damit den Menschen verändern, formen und ein- oder ausgliedern aus unserer Gesellschaft. Der Determinismus hat also zumindest eine Änderungs-Perspektive in die Zukunft. Auch oder gerade wenn es nur eine Illusion ist, können wir sie uns trotzdem zunutze machen für ein Wirken und Verändern in der Welt.
Doch, reicht uns das? Wo ist der Geist bei alledem geblieben? Ist wirklich alles Geistige aus, wenn unser Gehirn nicht mehr arbeitet? Gibt es nicht wenigstens Teile eines höheren Geistes in uns, die überleben und sich vielleicht im (denkbaren) Jenseits vereinen – mit dem höheren Geist, also mit Gott? Gibt es überhaupt einen Sinn ohne ihn? Hier setzt der Glaube ein.
Als gläubige Menschen tun wir uns also in vielerlei Hinsicht leichter. Wenn alles einen Sinn haben soll und einen Anfang, dann geht dies nicht ohne einen Verursacher und evtl. Zielgeber. Also nicht ohne einen Geist. Weil wir glauben, gibt es einen Geist.
Und was sagt nun Luther zum Determinismus-Vorwurf? Luther meinte nicht, dass der Mensch keine Wahl habe – sondern dass er ohne Gottes Hilfe nicht das Gute wählen könne. Die Freiheit zur wahren Entscheidung kommt erst durch Gottes Gnade.
In der Psychiatrie verwenden wir nicht nur biologische Mittel, nein wir führen intensiv Gespräche, führen Psychotherapie durch. Psychiatrie ist Beziehungsmedizin. Wir helfen Patientinnen und Patienten einen freien Kopf zu bekommen, frei zu werden von ihren belastenden Gedanken, ihrem Grübeln und ihren Sorgen. Sie sollen ihren Geist wieder selbst steuern. Geht das denn? Kann man den Gedankenfluss stoppen? Können wir überhaupt „nicht-denken“? Machen wir folgendes kleines Experiment: Achten Sie einmal ganz genau auf den Beginn Ihres nächsten Gedankens!? Bei wem ist einer gekommen? Bei wem nicht? Na also. Wir können ja doch Gedanken steuern!?
Halten Sie nun inne und fixieren Sie mit den Augen einen Punkt vor Ihnen, betrachten Sie genau dessen Struktur für wenige Sekunden. Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit nun Ihrem Atem zu und genießen Sie einen langsamen, bewussten Atemzug. Gönnen wir uns noch einen kurzen Moment der Stille.
Diese Übung der Achtsamkeit sollten Sie mehrmals täglich wiederholen, auch indem Sie sich eine Pflanze betrachten, ein Bild oder einen interessanten Gegenstand. Die Autoren des Buches „Achtsamkeit to go“ beschreiben heilende Wirkungen ähnlich einer längeren Meditationsarbeit am Stück – nur eben kürzer.
Patienten, die schon morgens und abends im Bett von Ängsten oder Grübelgedanken geplagt werden, lernen z.B., sich auf einen Punkt an der Decke oder die Geräusche der Umgebung wie das Zwitschern der Vögel, zu konzentrieren, sie beobachten ihre Atmung, zählen rückwärts von Hundert, sagen positive Sätze (sog. Affirmationen) wie „Ich vertraue auf meine innere Stärke“ oder sie sprechen ein Gebet, wenn sie gläubig sind. Wenn sie keinen religiösen Hintergrund haben, nutzen viele gerne die uralten Metta-Sätze „Möge ich glücklich sein, möge ich gesund sein, möge ich behütet und beschützt sein, möge ich in Frieden und in Leichtigkeit leben“. Sie lernen also, ihre Gedanken zu steuern, sie nicht mehr ihrem freien Lauf zu überlassen, der nichts anderes als ein gespeichertes falsches (eben krankes) Konzept darstellt, das ihnen ständig vom Gehirn eingespielt wird.
Was erreichen wir also mithilfe dieser Achtsamkeitstechniken? Wir treten heraus, aus dem Auto-Pilot-Modus unseres Gehirns, wir bestimmen nun wieder selbst, was der Inhalt unseres Bewusstseins ist, wissend, dass wir unsere Gedächtnis-Konzepte damit umschreiben, positives Denken ruft positive Gefühle hervor und verändert unser Handeln, das wiederum auf die Gefühle zurückwirkt. Außerdem erzeugen wir bewusst und selbst neue Vorhersagefehler im neuropsychologischen Sinn, d.h. wir kommen tatsächlich in die Wirklichkeit (selbstverständlich innerhalb unseres Tunnels) und leben eine Zeitlang in der Echtzeit. Deshalb ist es auch anstrengender und erschöpfender und wir können es nicht dauerhaft durchhalten- dafür werden wir aber mit der Zeit immer besser darin, Achtsamkeit ist eine Lebensaufgabe.
Mithilfe von Psychotherapie und Achtsamkeitstechniken wird gedankliche Steuerung erreicht und damit innere Freiheit erzeugt, die volle Selbstbestimmung wird möglich. Ein verantwortliches Leben kann daraus resultieren.
Der Kreis schließt sich wieder und ich komme zurück auf das Zusammenwirken von Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung. Martin Luther drückt dies wunderbar aus in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) mit folgenden Worten:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Der erste Satz betont die Freiheit und Selbstbestimmung des gläubigen Menschen: Durch den Glauben ist er frei von äußerem Zwang, sogar von Gesetzlichkeit, auf jeden Fall von Schuld.
Der zweite Satz zeigt, dass diese Freiheit nicht zur Willkür führt, sondern zur Verantwortung und Hingabe an andere. Der christliche Mensch handelt aus freiem Willen zum Dienst – nicht aus Zwang also, sondern aus Liebe und Hingabe.
Luther bringt hier auf den Punkt, dass wahre Freiheit immer Verantwortung einschließt, und dass Selbstbestimmung nicht egoistisch, sondern beziehungsorientiert gelebt werden soll.

Kommen wir damit nochmals auf den heutigen Predigttext zurück.

Jesus lebt uns einen radikalen Freiheitsbegriff vor, die höchste Form der Freiheit zu etwas – nämlich die Hingabe an seine höhere Bestimmung, seine Mission, an den Gehorsam seinem Vater gegenüber und dessen Willen. Selbstaufopferung aus vollkommener Freiheit heraus – nicht aus innerem Zwang oder falsch verstandenem Selbsterlösungswillen heraus. Seine Freiheit war nicht die eines Rebellen, sondern die einer tiefen inneren Überzeugung.
Jesus sagt in Johannes 10,18: „Niemand nimmt es [mein Leben] mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin.“
Diese Freiheit unterscheidet Jesus von Pilatus, von den Hohenpriestern, von der tobenden Menge: Pilatus ist gefangen in seiner Angst vor Rom und dem politischen Druck. Die Hohenpriester sind gefangen in ihren Vorstellungen von Macht und Gesetz. Die Menge ist gefangen in ihrem blinden Hass und ihrer Manipulierbarkeit.
Jesus allein bleibt frei, weil er nicht aus Angst oder Zwang handelt, sondern aus Liebe. Und was geschieht? Pilatus bringt ihn hinaus und sagt: „Seht, der Mensch!“ Ja, genau das ist er: Der wahre, vollkommene Mensch. Der Mensch, der sich selbst hingibt – nicht aus Schwäche, sondern aus Freiheit.
Hierin liegt eine tiefe geistliche Wahrheit: Wahre Freiheit ist nicht die Fähigkeit, alles tun zu können – sondern die Fähigkeit, das Gute zu wählen. Insbesondere in der unserer modernen Welt, in der wir oft hören: „Ich bin frei, wenn ich mich nicht einschränken lasse, wenn ich tun kann, was ich will.“ Aber sind wir wirklich frei, wenn wir jedem Impuls nachgeben? Ist der Süchtige frei, der nicht aufhören kann zu konsumieren? Ist der von Zorn erfüllte Mensch frei, der nicht vergeben kann? Nein. Wahre Freiheit liegt nicht im Beliebigen, sondern im Wahren.
Was bedeutet das für uns? Es bedeutet, dass wir jeden Tag vor einer Entscheidung stehen: Leben wir eine Freiheit, die sich selbst genügt – oder eine Freiheit, die sich verschenkt?

Und genau hier setzt die Fastenzeit an – quasi als persönliche Einübung der echten Freiheit:
Wir fasten nicht, um uns zu quälen. Wir fasten, um uns selbst besser zu verstehen. Wir fasten, um zu spüren, dass wir nicht von äußeren Dingen abhängig sind. Wir fasten, um neu zu lernen, was es bedeutet, wahrhaftig frei zu sein.
Denn die wahre Freiheit beginnt nicht draußen in der Welt – sie beginnt in uns selbst.
Wenn Sie möchten, dann stellen Sie sich folgende Fragen:
Was hält mich davon ab, wirklich frei zu sein? Gibt es Ängste, die mich einschränken? Gibt es Gewohnheiten, die mich steuern? Gibt es Dinge, die ich loslassen müsste, um freier zu werden?
Vielleicht ist genau diese Fastenzeit eine Gelegenheit, sich diesen Fragen zu stellen. Nehmen Sie sich die Zeit! Wenn nicht jetzt, wann dann? Planen Sie für sich selbst täglich Zeit ein, 10 min morgens und abends, meditieren Sie, schreiben Sie Tagebuch, gehen Sie achtsam mit allen Sinnen spazieren. Beten Sie.
Schalten Sie Ablenkungen aus, gönnen Sie sich Handy freie Zeiten. Lauschen Sie auf die Stille! Die Antwort darauf wird aus Ihrem Herzen kommen!
Ich komme zum Schluss:
Freiheit ist kein Zustand, sondern eine tägliche Entscheidung. Eine Entscheidung, sich nicht fremdbestimmen zu lassen, nicht von äußeren und inneren Zwängen, von Ängsten oder Gewohnheiten. Eine Entscheidung für Selbstverantwortung und innerer Klarheit.
Die Fastenzeit ist nicht in erster Linie eine Zeit des Verzichts, sondern eine Zeit der wahren Befreiung. Wahre Freiheit ist Hingabe. Jesus hat uns zur Freiheit befreit. Leben wir sie!
Amen.

3. Fastenpredigt „Führen und geführt werden“ mit Michael Zirlik, Johanneskirche Lauf 2024

Liebe Gemeinde, liebe Familie und Freunde, liebe Weggefährtinnen und -gefährten, liebe Schwestern und Brüder in Gott!

Mehr als 100.000 Ergebnisse zeigt uns Amazon, wenn wir nach dem Begriff „Führung“ suchen. Aber wer hätte gedacht, dass wir ausgerechnet mit der Heiligen Schrift eines der ältesten Bücher überhaupt zu diesem Thema in der Hand halten!?

Predigt Mitschnitt

Ich lese das heutige Predigtwort, den Wochenspruch bei Johannes 12,24:

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“.

Und wer hätte gedacht, dass gerade dieser Satz Impulse geben kann für so viele, aktuelle Fragen, die sich uns bei der Führung von Menschen heute stellen. Mit Führung haben wir alles so unsere Erfahrungen gemacht: Wenn uns z.B. Menschen als Mitarbeitende in der Arbeit anvertraut sind, wenn wir als Verantwortliche z.B. in einem Verein oder in einer politischen Initiative mit anderen zusammen etwas erreichen wollen, oder wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben führen. Aber auch, wenn wir selber geführt werden und vielleicht nicht immer glücklich sind mit dem Handeln unserer Chefs! Eine kleine Anekdote: Jemand hat mir mal gesagt er habe den Eindruck, sein Chef handle nach dem Motto – Achtung, ich zitiere wörtlich: „Erfolgreiche Führung ist es, wenn Du Mitarbeitende möglichst geschickt über den Tisch ziehst und sie die dabei entstehende Reibungshitze auch noch als Nestwärme empfinden!“

Ja, diesen Typus Führungskraft gibt es sicher auch, aber insgesamt können wir schon feststellen, dass Menschen, die für Andere Verantwortung tragen, heute ganz schön unter Druck sind: Zerrissen zwischen den vielfältigen Erwartungen, die an sie gestellt werden kommen sie oft selber kaum mit den schnellen und vielen Veränderungen in unserer Welt hinterher und sollen dann auch anderen dabei noch Vorbild sein. Dazu der unglaubliche Druck, es „richtig“ zu machen, Ergebnisse und Erfolge zu erzielen. Aus meiner Erfahrung als Coach kann ich berichten: Viele Führende fühlen sich heutzutage bildlich zusammengequetscht wie die „Nermbergar Brodwerschd zwischen den Weggla – Hälften“. Spass beiseite, hier geht`s auch nicht um „eine Runde Mitleid“, sondern darum, einfach mal sachlich wahrzunehmen, dass heutzutage eben viele Eltern erschöpft, viele Ehrenamtlich Verantwortliche frustriert und viele Führungskräfte gerade mittlerer Ebenen extrem burnoutgefährdet sind. Neueste Studien belegen dies.

Und doch glaube ich, dass diese „Krise der Führung“ auch etwas damit zu tun hat, welches Bild von Führung uns leitet: „Ich muss meinen Laden / mein Team im Griff haben“, „Ich muss immer präsent und verfügbar sein“, „Ich muss motivieren und manchmal auch mit Druck arbeiten, um die Ziele zu erreichen.“, „Ich muss immer stark sein, wissen, wie der Hase läuft und darf keine Fehler machen“, Wir merken schon beim Aufzählen, wie anstrengend sich all das anfühlt. Und die Frage taucht auf: ist das noch zeitgemäß?

Wie also könnte ein Impuls für eine andere, lebendigere, menschlichere und gleichzeitig erfolgreiche Führung aussehen?

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“.

Passend zu dem frühlingshaften Wetter stellen wir uns mal einen richtig schönen großen Garten vor. So mit Blumen, Sträuchern, Bäumen, Zier- und Nutzpflanzen usw.: Nach einem eher klassischen und traditionellen Verständnis von Führung sehen wir dort heute Gärtner und Gärtnerinnen, die milimetergenau säen, sofort jedes nicht geplante Gräschen rausrupfen, mit dem Lineal permanent das Wachstum messen, und vor allem an jedem Blümchen täglich kräftig ziehen, damit es möglichst schnell und in die richtige Richtung wächst.

Aber: Wer auch immer schon mal in einem Garten zu tun hatte, weiß doch, dass es so nicht funktioniert. Stattdessen: Dem Garten eine Struktur und Aufteilung geben, bewusst ansäen und dann vor allem: richtig bewässern, für genügend Licht und Luft und guten Boden sorgen und vielleicht mal mit einem Rankhölzchen stabilisieren und ab und zu mal düngen. Der Rest geschieht ganz von allein.

Wie wäre es, wenn wir uns auch in der Führung von Menschen genau darauf konzentrieren:

Einen Rahmen setzen, Orientierung bieten und alles dazu tun, dass andere bestmöglich wachsen, sich entfalten und Früchte bringen können? Wenn wir uns als Führende also nicht jeden Morgen fragen „Wie bringe ich heute andere dazu, dass sie machen, was ich will?“, sondern stattdessen „Was kann ich heute für andere tun, damit sie sich persönlich weiterentwickeln und die gemeinsamen Ziele bestmöglich erreicht werden können?”

Der heute so populäre Ansatz des “Servant Leadership, der “Dienenden Führung” stellt genau dieses Denken in den Mittelpunkt. Dienen – nicht als unterwürfige Handlung verstanden, sondern als einen Dienst leisten für andere – auf Augenhöhe. Kein Geringerer als Jesus selbst löst diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Dienen und Führen auf, wenn er in Markus 10,42 sagt: “…wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein“.

Es war vor vielen Jahren. Eine damals noch recht junge Mitarbeiterin von mir hatte drei Wochen Urlaub am Stück beantragt und auch genehmigt bekommen. Etwa einen Monat vorher kommt sie plötzlich zu mir und sagt: „Hr. Zirlik, ich möchte gerne davor noch eine weitere Woche Urlaub dranhängen.“ Ich hab erst mal innerlich geschluckt, denn eigentlich brauchte ich diese Mitarbeiterin dringend und ich musste sie ja ohnehin schon 3 Wochen entbehren. Und ich brauchte sie: Sie war eine gute und wichtige Mitarbeiterin! Was also tun? Spontan hätte ich entweder zähneknirschend genehmigen, oder mit Verweis auf betriebliche Gründe ablehnen können, halt in der Hoffnung, dass sie ein Einsehen hat. So aber dachte ich mir: Nimm Dir erst mal Zeit, komm ins Gespräch und hör vor allem gut zu. Wir hatten ein sehr vertrauensvolles Arbeitsverhältnis und so fragte ich Sie auch, was sie denn im Urlaub vorhätte. Und siehe da: Irgendwann fiel bei Ihr der Satz „ich brauche diese zusätzliche Woche, weil ich so gestresst und überlastet bin von der Arbeit! Es wird mir alles zu viel!“.

„Ok“ sag ich, „da sieht die Lage schon anders aus! Ich mach Dir mal einen Vorschlag (Wir hatten damals schon die „Duz – Kultur“): Ich verrate Dir jetzt ein paar Tricks und Methoden, wie Du Dich effizienter organisieren kannst und vor allem sprechen wir auch darüber, was Du künftig VON MIR brauchst, um mit hoher Arbeitsbelastung, die wir ja immer wieder haben werden, besser klar zu kommen. In drei Wochen schauen wir nochmal darauf, ob sich die Situation gebessert hat und entscheiden dann nochmal gemeinsam über den Urlaub.“ Zum Glück ließ sie sich auf diesen Vorschlag ein und wir gingen gut eine Stunde intensiv – wie man so schön sagt – „über die Bücher“ miteinander. Und siehe da: Nach drei Wochen hatte sich die Situation deutlich gebessert, die zusätzliche Urlaubswoche konnte von der Mitarbeiterin zu einem anderen, auch für sie selbst viel sinnvolleren Zeitpunkt gelegt werden und nicht nur das: Es war wie eine Initialzündung! In den folgenden Monaten hat diese Dame sich zu einer super produktiven, selbstbewussten, perfekt organisierten Mitarbeiterin entwickelt. Sie hat von sich aus zusätzlich weitere, anspruchsvollere Aufgaben übernommen und ist förmlich über sich hinausgewachsen. Sogar so weit – Ironie der Geschichte – dass sie uns eines Tages leider verlassen hat, um eine andere, noch anspruchsvollere Position wahrzunehmen.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“.

Zugegeben: Mit Blick auf die Führung von Menschen kann man über das Wort „Sterben“ in diesem Satz schon ganz schön stolpern. Aber ist es nicht so: Das Weizenkorn ist ja nicht im biologischen Sinne „tot“, sondern es verändert sich grundlegend, d.h. unter dem Einfluss von Nährstoffen, Wasser und den lockenden Sonnenstrahlen beginnt es zu keimen, zu wachsen und etwas völlig Neues hervorzubringen. Ein höchst lebendiger und natürlicher Vorgang also. So geht es auch in unserem heutigen Führungsverständnis in erster Linie doch darum, zu Veränderung anzustoßen, Entfaltung zu ermöglichen und Neues in die Welt kommen zu lassen.

Nun, Sie alle werden dem sicher zustimmen. Aber jetzt mal Hand auf`s Herz und ehrlich:

  • Wem fällt es wirklich leicht, wenn z.B. die eigenen Kinder vollkommen andere Wege gehen, als wir für sie gedacht hatten?
  • Wie souverän sind wir wirklich, wenn andere unter unserer Führung Ideen entwickeln, die so viel besser sind als unsere eigenen?
  • Fördern wir wirklich andere Menschen konsequent, auch dann noch wenn sie drohen, plötzlich besser als wir selbst zu werden?
  • Wie bereit sind wir, die Werte der jungen Generationen auch als Bereicherung für unsere Gesellschaft und Arbeitswelt zu betrachten, anstatt nur immer darüber zu schimpfen und zu klagen, dass diese Generation ja angeblich nur zu faul zum Arbeiten sei?
  • Wie gut sind wir überhaupt darin, Kontrolle abzugeben, Unsicherheit auszuhalten und demütig anzuerkennen, dass wir eben auch als Führende nicht „alles im Griff haben“ können?

An diesen Beispielen sehen wir, dass dienende Führung nicht irgendwelche Sozialromantik ist, nicht irgendein Feelgood – Management. Vielmehr geht`s hier um essenzielle Fragen.

Denn:

  • Wir brauchen junge Leute, die gelernt haben, eigenständig und verantwortungsvoll ihren eigenen Weg zu gehen, wenn wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln wollen.
  • Wir brauchen in unseren Unternehmen Innovationen, wenn wir auch künftig wettbewerbsfähig und wirtschaftlich erfolgreich sein wollen
  • Und ja, wir brauchen endlich auch in unseren Kirchen – gleich welcher Konfession – kräftige, ja vielleicht auch manchmal schmerzhafte Veränderungen und mutige, grundlegende Neuerungen, wenn wir auch künftig noch die Menschen erreichen und in der Gesellschaft relevant sein wollen.

Machen wir uns nichts vor: Die Entwicklung hin zu echter, dienender Führung ist nicht einfach und geht vor allem nicht von heute auf morgen. Manche Menschen wollen vielleicht auch zunächst gar nicht so viel Selbstverantwortung übernehmen, sondern wollen lieber die charismatische, heldenhafte Führungskraft, die ihnen genau sagt, was sie zu tun haben.

Eine Führungskraft erzählte mir: „ich wollte in meinem ambulanten Pflegedienst schon lange mehr Verantwortung in die Teams delegieren. Die Mitarbeitenden sollen selber entscheiden, wie sie ihre Dienstpläne gestalten und wann sie Urlaub machen usw. Aber alle haben mir immer wieder erzählt, dass das bei uns nie funktionieren würde. Und dann kommt dieser niederländische Pflegedienst „Buurtzorg“ und macht genau das und man sieht: Es kann doch funktionieren! Aber ich hatte damals einfach nicht die Kraft dazu…“

Auch im heutigen Predigttext wollen die Griechen Jesus sehen, hellenistisch bedeutet dies den Halbgott, den Held, den Sieger. Doch Jesus lässt sich auf diese(!) Führungsrolle nicht ein, sondern konfrontiert sie mit der einfachen, aber tiefgreifenden Wahrheit:

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“.

Ein Satz, ausgesandt wie ein Lichtstrahl vor Jahrtausenden. Er scheint in unsere Gegenwart und leuchtet in die letzten Winkel unserer heutigen Zeit, die so von Polarisierung und Zukunftsangst geprägt ist. Und er hat damit persönliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung.

Denn welch großartiges Bild Gottes scheint in diesem Satz auf!

Ist es nicht ein Gott, der uns zuruft: „Mensch, erkenne Deine Talente, mach was aus Dir!

Werde nicht träge und richte Dich nicht gemütlich in Deiner Blase ein. Sondern brich auf! Du bist für den Weg geboren!“, wie es in einem alten Pilgerruf heißt. „Komm raus aus Dir und finde Begleiter, Brüder und Schwestern. Werde in der Begegnung mit anderen Menschen zu dem, der Du sein kannst. Blühe auf, gestalte mit und bring reiche Frucht!“

„Sei mutig und hab keine Angst vor Veränderung: Veränderungen gehören nicht nur zum Leben dazu, sondern Veränderungen SIND das Leben! Nur was tot ist verändert sich kaum noch.“

„Und schenke bitte jenen Anführern keinen Glauben, die Dir weismachen wollen, wir könnten die vielen Krisen unserer Zeit und der Zukunft bewältigen, indem wir einfach so weiter machen wir bisher.“

Ist es nicht ein Gott, der uns alle Freiheit dieser Welt schenkt, unser Leben und unsere Welt in Verantwortung selbst zu gestalten und der uns mit der heiligen Schrift eine Idee, ein Bild – im Managerdeutsch würde man sagen „Eine Vision“ – davon vermittelt, wie dieses Leben gut gelingen kann?! Seine Gebote z.B. sind doch keine Gesetze, bei denen uns im Jüngsten Gericht detailliert aufgerechnet wird, wie oft wir uns im Wortlaut daran gehalten haben oder nicht. Sondern sie sind aus meiner Sicht „Life Hacks“ für gelingendes Leben, wenn wir uns ihren Sinn erschließen!

Ein Beispiel? Wenn wir lesen „Du sollst nicht falsch aussagen“, dann ist es natürlich trotzdem in Ordnung, wenn wir auf die schnelle Frage „Na, wie geht`s“ antworten mit „Alles gut“, anstatt all unsere Sorgen und Nöte dem anderen vor die Füße zu kippen. Aber wenn wir lesen „Du sollst nicht töten“, dann könnte das vielleicht im tieferen Sinne auch bedeuten:

„Fang am besten gar nicht erst damit an, Misstrauen und Hass gegen bestimmte Menschengruppen zu säen. Fantasiere nicht damit rum, ihnen die Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft abzusprechen. Und unterstütze auch jene nicht, die genau das tun!“

Und schließlich: Ist es nicht ein Gott, der uns ermuntert, zutraut und auch zumutet, unseren eigenen Weg zu gehen, anstatt nur irgendwelchen Trends und Moden hinterher zu laufen?! Und der uns dabei durch kleine, oft unscheinbare Ereignisse, berührende Begegnungen und weitere, sogenannte „Zufälle“ in unserem Leben praktische „Wegweiser“ und „Hinweisschilder“ für unseren Lebensweg gibt. Wir müssen sie manchmal nur aufmerksam wahrnehmen und lesen.

Denn darum geht es doch letztlich auch heute in unserer Predigt: Wir führen nicht nur andere Menschen oder werden von diesen geführt, sondern wir alle führen zuallererst mal auch uns SELBST! Und nur wer sich selbst gut führen kann, kann auch andere gut führen!

Liebe Schwestern und Brüder,

Ich wünsche uns allen, dass uns diese Selbstführung gelingt und wir uns dabei auch vertrauensvoll in die Führung Gottes hineinbegeben können.

Ich wünsche allen, die von anderen Menschen geführt werden, dass sie manchmal auch etwas Nachsicht mit Ihren Chefs haben, aber dass Sie auch den Mut finden, unpassendes Verhalten und Misstände offen anzusprechen, denn ja: auch und gerade Führungskräfte brauchen diese Rückmeldung manchmal!

Und ich wünsche allen, die Verantwortung für andere Menschen tragen, dass Sie gute Gärtnerinnen und Gärtner sein mögen in einem Garten, der reiche, schmackhafte und vielfältige Frucht bringt.

“Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.”

Amen

Führen und geführt werden. Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm. 2. Fastenpredigt von Ulrike Knienieder-Glimpel. 3.3.2024 in der Johanniskirche Lauf

(Es gilt das gesprochene Wort)

Führen und geführt werden ist ein Thema das mir sehr am Herzen liegt, es beschäftigt mich, so kann ich es sagen, schon mein Leben lang und hat mein Leben geprägt. Durch meinen Werdegang habe ich die betriebswirtschaftliche Seite der Führung sehr gut kennengelernt, die unterschiedlichsten Definitionen von Führung, Führungsaufgaben, Führungskonzepten und Führungsstilen. Zum einen in der Theorie und zum anderen auch in der Praxis. Viele Menschen machen sich über dieses Thema Gedanken.  So entstehen immer wieder neue Modelle und Konzepte, weil sich die Zeit immer wieder ändert.

Jeder von uns hat sein eigenes Bild, seine eigenen Vorstellungen von Führung, seine eigenen Erwartungen und Wünsche an eine Führungskraft. All diese unterschiedlichen Bilder sind von den ganz eigenen persönlichen Erfahrungen geprägt die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben, mit den Eltern, der Schule, der Ausbildung, im Beruf.

Und auch ein Mensch der in der Rolle als Führungskraft tätig ist, hat sein eigenes persönliches Verständnis von Führung, von seiner Rolle. Die Art und Weise wie jemand führt hängt ebenfalls von seinem Selbstbild, seinem Wesen, seinem Menschenbild ab und von der eigenen Lebensgeschichte.

Führen und geführt werden sind dabei eng miteinander verwoben, denn jeder Mensch der führt wird auch gleichzeitig geführt. Im Unternehmen sind das die MitarbeiterInnen, die Kunden, das Umfeld in dem das Unternehmen agiert. Die Zeit in der wir leben, die äußeren Umstände auf die wir keinen Einfluss haben, führen ebenfalls.

Da habe ich mich gefragt wann geschieht Führung? Was ist der Kern, die Grundlage der Führung?

Für mich ist Führung ist mehr als eine Methode, mehr als ein Konzept. Führung ist eine Haltung, denn Führung geschieht mit Menschen und zwischen Menschen.

Das Herz eines jedes Unternehmens sind die Menschen.  Die Kernaufgabe der Führung ist die Gestaltung des Zusammenspiels der Menschen und die Gestaltung der Rahmenbedingungen, so dass jeder Mensch mit seiner jeweiligen Persönlichkeit und Fähigkeit die Chance hat erfolgreich zu sein. Das beschreibt eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens.  Zwang und Druck hemmen, schränken ein. Um Ziele umzusetzen, kreativ zu sein, ist Angst das ungeeignetste Führungsinstrument.

Führung braucht den Kontakt zum Menschen, die Begegnung auf Augenhöhe. Gute Führung legt niemanden auf seine Fehler oder Grenzen fest, sondern sieht in jedem Menschen den guten Kern, nimmt den Menschen wahr so wie er ist. Das verlangt gleichzeitig nach der Fähigkeit das Andersartige und Vielfältige ohne zu werten oder bewerten auszuhalten. Es geht Mitmenschlichkeit.

Das wirksamste Mittel der Führung ist das Gespräch, das Gespräch miteinander, nicht das Gespräch übereinander. Ein Gespräch, das zugewandte Zuhören schafft Verständnis. So entdeckt man die Wahrheit und die Perspektive des anderen. In einem Gespräch lässt sich erklären warum die Aufgabe wichtig ist, warum etwas erledigt werden muss.  Das schafft Klarheit und Vertrauen.

Führung geschieht nur wenn der Andere sich führen lässt.

Das was ich hier beschreibe klingt wohl eher nach einer Idealisierung, einer Romantisierung der Führung.  Wie soll das im unternehmerischen Alltag denn gelingen? Menschen fördern, gerecht sein, gleichzeitig Entscheidungen durchzusetzen, Härte zu zeigen und dabei stets sowohl den Menschen als auch das Unternehmen in seiner Gesamtheit im Auge zu behalten.

Geht es im Unternehmen nicht eher um Gewinn, Umsatz, Gewinnung von Marktanteilen, Erschließen neuer Märkte? Um Erfolg?

Wer oder was verleiht mir das Vertrauen mit den Widrigkeiten und Unsicherheiten der momentanen Zeit zurecht zu kommen? Welche Kraft sorgt dafür das ich die Welt die mich umgibt mit Zuversicht betrachte, an die Zukunft glaube, an das Gute glaube?

Liebe und Führung eines Unternehmens, Liebe und Führung in einem Unternehmen das widerspricht sich, hört sich im ersten Moment fremd an. Kann das funktionieren und vor allem wie funktioniert das?

Die Liebe ist eine Kraft, eine Kraft die aus dem Herzen kommt. Sie findet im Arbeitsalltag sehr wohl ihren Raum. Sie gibt Leitlinien vor, gibt Orientierung bei der Entscheidungsfindung. Sie lässt einen fühlen was richtig und falsch ist. Denn Entscheidungen oder Handlungen die gegen die Liebe laufen lassen sich nicht treffen bzw. ausführen. Sie hilft dabei Ja zu sagen oder Nein und Grenzen zu setzen.

Als Supervisorin führe ich bei uns im Unternehmen Gespräche mit Mitarbeiter/innen die nach längerer Krankheitszeit wieder im Unternehmen arbeiten. Es geht unter anderen auch um die Fragen nach der Gestaltung des Arbeitsplatzes.

In einem dieser Gespräche war ein Mann bei mir der immer wieder längere Krankheitszeiten hatte. Er hatte seinen Arbeitsplatz im Büro, seine Aufgabe war die Disposition und Koordination von Aufträgen. Im Rahmen dieser Aufgaben hatte er auch mit anderen Abteilungen bzw. mit anderen Kollegen zu tun. Mit den Kollegen in den anderen Abteilungen gab es immer wieder Ärger. Im Laufe des Gesprächs kamen wir auch auf private Dinge zu sprechen. Er erzählte mir wie gerne er an seinem Auto schraubt und in seinem kleinen Garten arbeitet. Als er darüber sprach habe ich seine Augen strahlen sehen. Und dann sagte er, er würde so gerne mit seinen Händen arbeiten, nicht nur im Büro sitzen wollen. Es war klar, er braucht eine andere Aufgabe. Es hat eine Weile gedauert, bis ein entsprechender Arbeitsplatz frei war doch dann hat es geklappt. Und wenn ich ihn bei uns im Hof treffe, dann strahlen seine Augen.

Würde ich diesen Mitarbeiter rein unter Leistungsgesichtspunkten beurteilen, wäre das ein Kollege mit hohen Krankheitstagen, der Ärger mit anderen Kollegen hat. Da wären die nahe liegenden Gedanken, er erfüllt die Erwartungen nicht, bringt die Leistung nicht, ganz einfach er passt nicht.

Ein anderer Weg einen Menschen zu „beurteilen“ ist das Strahlen in den Augen, ihn zu sehen. Natürlich gibt es auch Menschen die sich dazu entschlossen haben nur unzufrieden zu sein. Deren Augen leuchten ganz selten oder nie. In diesen Fällen führt kein Gespräch zum Erfolg und auch das gilt es anzunehmen.

Das ist nur ein kleines Beispiel dafür den Alltag im Beruf mit anderen Augen zu betrachten.

Die Liebe eröffnet eine andere Sichtweise auf den Menschen.

Von welcher Liebe rede ich?

Es geht hier nicht um die romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Die Liebe von der ich rede beginnt in den eigenen Gedanken und Gefühlen. Es ist ein Gefühl der Verbundenheit, der Dankbarkeit, der Freude, des sich lebendig Fühlens. Es ist eine Kraft die die Gewissheit gibt aufgefangen und getragen zu werden, eine Kraft die Angst überwindet und Zuversicht schenkt.

Führung im Unternehmen hat immer mit der eigenen Lebensführung zu tun, mit der Verantwortung die ich für mein Leben übernommen hat. So wie ich mich selbst führe, führe ich auch andere Menschen. Führung ist eine Haltung.

Selbstführung bedeutet einen guten Umgang mit meinen Gedanken und Gefühlen, die Fähigkeit meine eigenen Gedanken und Verhaltensweisen von außen, von einer anderen Position aus zu betrachten. Dinge zu erkennen, wahrzunehmen, sie annehmen und wenn ich sie verändern kann dann zu verändern. Es geht um die Freundschaft mit mir selbst.

Die Fragen: Was schenkt mir Freude? Was begeistert mich? Was sind meine Talente um das zu verwirklichen? Wie lebe ich meine Wünsche, Träume, Ziele im Alltag? Die Suche nach den Antworten auf diese Fragen zeigen mir den Weg, geben die Richtung vor.

Diesen Weg zu gehen gelingt mir mal gut, mal weniger gut gelingt und lässt mich so manches Mal auch stolpern. Immer gilt dieser Weg ist mein Ziel.

Selbstführung bedeutet Selbstvertrauen, das Vertrauen in die eigene Intuition, das Vertrauen in die Stimme des Herzens. Dafür braucht es Mut.

Wer in der Liebe ist, der ist in Gott und Gott in ihm.

Es ist ein Spruch der mein Herz berührt hat, der mir Orientierung für mein Handeln gibt, der mein Führungsverständnis und mein Bild von den Menschen prägt. Dieses Gefühl, das Vertrauen und die Gewissheit von Gott geführt zu werden, bereichert mein Leben, schenkt mir viel Freude, Herzensruhe und schließlich auch Freiheit.

Ulrike Glimpel-Knienieder

3. Fastenpredigt 2023: “Suchet der Stadt Bestes“ – zum Nachlesen

Die Fastenpredigt vom So, 26.03.2023 Pfr. Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing zum Nachlesen

Pfarrer Udo Hahn ist bekannt als Rundfunkprediger und Publizist. Er leitet seit 2011 die Evangelische Akademie Tutzing. Er war u.a. Redakteur beim Rheinischen Merkur und Oberkirchenrat der EKD. Für die Fastenpredigt kehrt er zurück zu seinen Wurzeln. In Lauf geboren hat er hier Abitur gemacht, in Neunkirchen am Sand ist er aufgewachsen.

PREDIGT:

Gnade sei mit euch von dem, der da war und der da ist und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

heute auf dieser Kanzel zu stehen, ist ein besonderer Moment. Es ist ein bewegender Augenblick für mich, denn hier zu Ihnen zu sprechen, bedeutet: Ich bin zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich bin ein Laufer. Hier hat alles begonnen. Ich bin hier geboren. Und ich habe hier mein Abitur gemacht. Das Staatliche Gymnasium, wie es damals, 1982, noch hieß, hat meinen Horizont erweitert. Die Jahre am Gymnasium waren nicht immer einfach, aber ich verdanke der Schule viele Impulse, die ihre Wirkung erst im Laufe der Jahre entfalten sollten. Ohne diese Schule wäre ich nicht Journalist geworden und hätte auch nicht Theologie studiert.

Wurzeln sind wichtig. Sie geben Stabilität. Es ist gut zu wissen, wo man herkommt. Und sich immer wieder einmal seiner Wurzeln zu vergewissern. Heute ist so ein Moment. Ich habe mich sehr gefreut, lieber Herr Hanstein, als Sie mir die Einladung schickten, eine Fastenpredigt zu halten. Mich hier einreihen zu dürfen in die Liste der Predigerinnen und Prediger, ist mir eine Ehre.

Mit dem Thema für die Predigtreihe in diesem Jahr liegt die Messlatte nach meinem Empfinden besonders hoch. Die Herausforderungen der Zeit, um die es geht, sind gewaltig: Kriege, Klimawandel, Künstliche Intelligenz – jedes für sich hat sein eigenes Gewicht. Dass sie uns gleichzeitig beschäftigen, unterstreicht ihre Bedeutung. Und die Liste ließe sich mühelos erweitern. Die Fragen, die auf unserer Tagesordnung stehen, sind nicht trivial. Es geht um viel. Und es geht auch um mich selbst, um uns alle: Wie begegnen wir den genannten Themen? Wozu genau sind wir herausgefordert? Und welche Rolle könnte der Glaube spielen?

Ich spreche heute früh zu Ihnen als Theologe. Das ist die Expertise, die ich einbringe. Ich möchte Ihnen – mit einem Blick in die Bibel, konkret: ins Alte Testament, mit einem Text im Buch des Propheten Jeremia – Menschen vorstellen, die eine große Herausforderung zu bewältigen hatten. Man könnte von einer Zeitenwende sprechen, die sie erlebten. Die plötzlich von ihren Wurzeln abgeschnitten wurden. Die alles verloren haben, was ihnen Halt und Hoffnung gegeben hatte.

Wir gehen in das Jahr 597 vor Christus. Der babylonische Herrscher Nebukadnezar erobert Jerusalem. Die Stadt wird geplündert und zerstört. Bilder des Krieges – z. B. aus der Ukraine oder Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs, die viele noch ins sich tragen – vermitteln uns eine Vorstellung, welches Entsetzen, wie viel Gewalt, menschliches Leid dies bedeutete. Nach der Eroberung Jerusalems zwingt der Eroberer das gesamte Königshaus, die Oberschicht, Gelehrte, Handwerker und Fachleute, nach Babylon zu gehen. Der Plan ist klar: Sind sie weit weg, die Stadt Jerusalem wird nicht so schnell nicht wieder aufgebaut werden können.

In Babylon sitzen die Deportierten nun fest, während der Prophet Jeremia mit einem kleinen Rest im zerstörten Jerusalem verbleibt. Die Verbannten sind trostlos, wie gelähmt, traumatisiert. Sie wissen nicht weiter und können ihr Entsetzen kaum bewältigen. Schreckliches haben sie erlebt. Eine Perspektive für ihr Leben sehen sie nicht. Getrieben sind sie von Entsetzen über das Erlebte, von der Klage über ihr Schicksal und der Sehnsucht nach ihrer alten Heimat.

In diese Situation hinein schreibt ihnen Jeremia (29,4-7): „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; … Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“

Was wir lesen – sind Worte des Trostes und der Ermutigung!

Die erste und wichtigste Botschaft des Jeremia lautet: Gott ist bei euch! Natürlich haben sich die Verbannten gefragt: Wie konnte Gott das zulassen? Warum wir? Wo war denn Gott, als das alles passierte?

Es ist die große Frage des Glaubens. Wo war Gott? Wo ist Gott? Die Verbannten meinten, Gott sei nur in Jerusalem zu finden. In der Babylonischen Gefangenschaft sind sie von Gott verlassen. Jeremia weitet ihr Gottesbild und sagt: Gott ist doch da, auch bei euch in Babylon. Das Volk Israel hat einen Lernprozess durchlaufen. Erst meinte es, Gott in der so genannten Bundeslade bei sich zu haben auf dem Weg durch die Wüste – nach dem Aufbruch aus der Knechtschaft in Ägypten. Später war es wichtig, Gott im Tempel in Jerusalem zu verehren. Jetzt musste es lernen, dass Gott auch in der Verbannung ist, an jedem Ort der Erde. Dieses Bewusstsein, dass Gott mitgeht, an jeden Ort dieser Erde zu finden ist, das war entscheidend für den Glauben des Judentums. Und es ist entscheidend für das Christentum. Du kannst Gott an jedem Ort finden. Du findest ihn auch dort, wo du es gar nicht für möglich hältst, wo du Kranke besuchst oder Gefangene, wo du Obdachlose und Geflüchtete beheimatest und Hungrigen zu essen gibst. Genau da findest du Gott, heißt es im Neuen Testament, im Matthäusevangelium.

Wo ist Gott? Er ist da. „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“ – so hat es der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer formuliert, Weihnachten 1944, als er seiner Verlobten und seiner Familie schrieb. Das sind die letzten schriftlichen Worte Bonhoeffers, geschrieben im Gefängnis. Bonhoeffer wurde wenige Monate später, am 9. April 1945, im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet.

Gott ist da – und deshalb könnt ihr an einem neuen Ort, an jedem neuen Ort Wurzeln schlagen. Beheimatet euch, empfiehlt Jeremia Er tröstet die Verbannten ganz praktisch: Nun findet euch da ein, wo ihr seid! Pflanzt Bäume, baut Häuser, gründet Familien. Wahrscheinlich war das nicht das, was die Verbannten hören wollten. Keine Rückkehrperspektive, die es anbietet. Vielmehr will er ermutigen, sich auf die neue Situation einzulassen. Verzagt nicht, auch wenn es euch schlecht geht! Macht das, was gerade möglich ist. Lasst euch nicht einflüstern, wie schlimm alles ist, sondern packt an.

In der Ermutigung, der Stadt Bestes zu suchen, ist der Brief auch politisch. Polis – das ist die Gemeinschaft, in der Menschen leben, die Kommune, die Stadt, das Dorf, der Verein. Da bin ich selbst gefordert und nicht nur Zuschauer. Was zu tun ist, was geschieht, es geht mich persönlich etwas an. Und ich kann selbst etwas beitragen. Jeder und jede kann etwas beitragen. Zum Glauben gehört der Auftrag zur Gestaltung der Welt. In einer Zivil- und Bürgergesellschaft wird dieser Auftrag als Einladung und Aufforderung zugleich betrachtet, sich einzubringen – als Einzelner und zusammen mit anderen.

Suchet der Stadt Bestes ist ein Leitmotiv der Arbeit, für die ich seit zwölf Verantwortung trage. Dort bearbeiten wir in Tagungen die Themen, von denen schon eingangs die Rede war: Wie lassen sich Kriege verhindern? Wie sieht ein gerechter Frieden aus? Was können wir gegen die Erdüberhitzung tun? Wie wird Künstliche Intelligenz unser Leben prägen? Das sind nur vier Themen von mehreren Dutzend Fragen, die wir in Tagungen aufgreifen, zu denen Menschen aus ganz Bayern und auch aus anderen Bundesländern kommen. Interessierte, die ein ganzes Wochenende diskutieren, ein Thema von allen Seiten betrachten, manchmal auch streiten, die sich orientieren, ihren eigenen Horizont erweitern, ein eigenes Urteil bilden möchten, mitreden wollen. Die nach Lösungen suchen, wenigstens nach Teillösungen, die ausprobieren, wie nächste Schritte, wie ein vernünftiger Kompromiss aussehen könnte.

Gott ist da – engagiert euch. Wir spüren: Hier geht es um die Haltung – meine Haltung, meine Einstellung. Wie ich den Herausforderungen begegne. Darin liegt auch eine Ermutigung zum kritischen Denken. Sich nicht verführen zu lassen von den Vereinfachern, von denen, die die Abgrenzung betonen – wir und die. Sich nicht verführen zu lassen on denen, die hasserfüllt andere abwerten. So kommen wir in unserer Gesellschaft nicht weiter.

Hoffnung auf Zukunft entsteht dort, wo Menschen sich zusammenfinden, das Gemeinsame herausarbeiten und nicht zuerst das Trennende betonen. Für einen allein sind die Herausforderungen natürlich zu groß, eine Überforderung. Deshalb ist es gut, sich mit anderen zu verbinden.

Und welche Rolle könnte der Glaube spielen? Er ist – wie wir bei Jeremia oder bei Bonhoeffer sehen – eine Ressource. Ich könnte auch sagen: Motivation. Die Welt verändern zu wollen – mit anderen und für andere –, das ist Motivation. Diese Ressource macht Glaubende nicht zu Besserwissern. Sie macht Glaubende aber zu Menschen, die im Vorfindlichen noch nicht das Endgültige sehen. Die vom Leid anderer nicht unberührt bleiben. Die sich interessieren für das, was um sie herum geschieht. Die Spielräume ausloten, sich beteiligen, mit anpacken, Verantwortung übernehmen. Die den ersten oder den nächsten Schritt wagen. Die im Wir einen Mehrwert für die Gesellschaft der Verschiedenen sehen. Die sich durch Scheitern nicht entmutigen lassen. Die immer wieder neu anfangen.

Der tröstende und ermutigende Ton der biblischen Worte klingt über die 2600 Jahre hinweg nach. Gott ist da, sagt Jeremia. Auch wenn du im Moment nicht weiterweißt: Lass dich nicht irre machen in deinem Glauben. Dein Gottvertrauen gibt dir Kraft. Das ist Trost, den wir uns gegenseitig zusprechen und die Ermutigung, mit unserem Engagement der Platzanweisung Gottes zu folgen und der Stadt Bestes zu suchen. Darauf liegt viel Segen für die Gemeinschaft, in der wir leben! Amen.

Fastenpredigten 2023 in der Johanniskirche

Akademiedirektor Udo Hahn, © Haist/eat archiv

Fastenpredigt III: “Suchet der Stadt Bestes“ mit Musik von JohannisBrass

So, 26.3.2023 mit Pfarrer Udo Hahn

Pfarrer Udo Hahn ist bekannt als Rundfunkprediger und Publizist. Er leitet seit 2011 die Evangelische Akademie Tutzing. Er war u.a. Redakteur beim Rheinischen Merkur und Oberkirchenrat der EKD. Für die Fastenpredigt kehrt er zurück zu seinen Wurzeln. In Lauf geboren hat er hier Abitur gemacht, in Neunkirchen am Sand ist er aufgewachsen. Die FastenpredigerInnen in der Johanniskirche Lauf 2023 geben Orientierung in aktuellen Herausforderungen, getragen von persönlichen und beruflichen Erfahrungen.

Der Gottesdienst findet am 23.3. um 9:30 Uhr in der Johanniskirche statt und werden musikalisch von JohannisBrass gestaltet. Danach gibt es die Möglichkeit zur persönlichen Begegnung mit den PredigerInnen beim Kirchenkaffee im Johannis-Saal.

“Herausforderungen unserer Zeit”

Kriege, Klimawandel und Künstliche Intelligenz sind wahrscheinlich die größten Themen im Jahr 2023 in unserer Gesellschaft. Wie begegnen wir ihnen? Wozu sind wir herausgefordert? Welche Rolle könnte Glaube spielen?

Diese Gottesdienste in der Passionszeit finden alle 14 Tage jeweils um 9:30 Uhr in der Johanniskirche statt und werden musikalisch umrahmt. Danach gibt es die Möglichkeit zur persönlichen Begegnung mit den PredigerInnen beim Kirchenkaffee im Johannis-Saal.

Elke Kaufmann ©Elaine Schmidt

Hier die Fastenpredigten 2023 zum Nachlesen!

Fastenpredigt I: „Wut und Beistand bei Hiob und heute“

So, 26.2.2023 mit Dr. Elke Kaufmann.

Elke Kaufmann ist geschäftsführende Vorständin des Diakonischem Werks der Dekanate Neumarkt, Altdorf und Hersbruck. Als gelernte Sozialpädagogin begann sie in der Dekanats­jugend, arbeitete als Gerontologin im Sozialdienst und Quartiersmanagement bei DIAKONEO und übernahm am Zentrum für Altersmedizin zunehmend mehr Geschäftsführungsaufgaben.

Unsere FastenpredigerInnen in der Johanniskirche Lauf 2023 geben Orientierung und machen Vorschläge, getragen von persönlichen und beruflichen Erfahrungen.

David Geitner ©privat

Hier zum Nachlesen!

Fastenpredigt II: „Berühre meine Wunden“ – Anteilnahme als Auftrag Christi in unserer Gesellschaft?!“

So, 12.3.2023 mit Diakon David Geitner. David Geitner ist seit Februar 2023 Berater für Kirchenasyl der Evangelischen Landeskirche in Bayern. Er arbeitete sieben Jahre bis Ende 2020 als Jugendleiter und in der Flüchtlingsberatung in unserer Kirchengemeinde Lauf. Zuletzt war er Geschäftsführer für Kindertagesstätten im Dekanat Hersbruck. Er ist Rummelsberger Diakon und hat zusätzlich einen Abschluss als Betriebswirt (VWA)

Versöhnung – im Strafvollzug?

Fastenpredigt von Katharina Leniger am 27.03.2022 in der Johanniskirche in Lauf an der Pegnitz

Katharina Leniger (links) wurde von Pfarrerin Lisa Nikol-Eryazici begrüßt. Die Stadtstreicher umrahmten den Gottesdienst.

Woran denken Sie, wenn Sie heute Morgen an Versöhnung denken?

Ich merke, es fällt mir gerade schwer, an Versöhnung zu denken, ohne dass meine Gedanken abschweifen zu den unzähligen Konflikten, die gerade in der Welt toben, obwohl – oder gerade weil – sie meilenweit von „Versöhnung“ entfernt sind. Es kommen mir Bilder und Szenen in den Kopf, wo Versöhnung so dringend nötig wäre und doch unerreichbar scheint: Der zerstörerische, wahnsinnige Krieg in der Ukraine, der allen Beteiligten so ungeheuer großen Schaden zufügt. Der Umgang mit Hass innerhalb der Gesellschaften: Querdenker gegen die Politik, Kämpfer:innen für die selbst definierte Freiheit gegen das „Team Vorsicht“. Es kommen mir auch Konflikte innerhalb meiner, der katholischen Kirche in den Sinn, Menschen, die sich um die Bewahrung der Rechtgläubigkeit sorgen und diejenigen, die versuchen, dabei nicht das Bunte des Menschlichen und die Menschen selbst außen vor zu lassen. Daneben die unzähligen, so sehr Gequälten, denen Gewalt in Institutionen geschehen ist, die seelischen, körperlichen oder spirituellen Missbrauch ertragen mussten und immer wieder neu verletzt werden durch das Handeln und Nicht- Handeln der Täter oder denen, die lieber die Institution als die Menschen schützen. Es gäbe noch viele weitere Beispiele zu nennen.

So unterschiedlich diese beschriebenen Brandherde sind: Wenn ich an Versöhnung denke, wird mir unwohl. Wie soll das denn angesichts des Leids und der Schuld möglich sein? Ist Versöhnung da nicht der blanke Hohn? Nicht ein Griff nach den Sternen? Wäre es nicht schon mal genug, wenn endlich Ruhe einkehren würde, ein Status Quo, in dem man die andere Seite leben lässt, statt sie zu quälen, zu missionieren, Rache zu nehmen? Dieses Unwohlsein lässt sich nicht so schnell wegwischen, es gehört zu diesem Thema wohl unweigerlich dazu. Versöhnung klingt erst einmal nach einer „schönen neuen Welt“. So einfach ist es nicht.

Ich habe noch eine zweite Frage an Sie (anstrengend, ich weiß). Woran denken Sie, wenn Sie an Gefängnisse denken?

Vielleicht kennen Sie Bilder aus der Zeitung oder dem Fernsehen, Gitter vor Fenstern, abgeschlossene Türen, volltätowierte junge Männer. Viele von Ihnen werden wahrscheinlich noch in keinem Gefängnis gewesen sein. Das Gefängnis ist ein Ort, der in unserer Gesellschaft verborgen ist und den man nicht so leicht verstehen, nicht „begreifen“ kann. Folglich ist es auch mit viel Mühe verbunden, den dort Inhaftierten, den Bediensteten, dem Alltag näher zu kommen.

Wenn es Ihnen geht wie mir vor dem Beginn meiner Doktorarbeit, dann denken Sie womöglich, dass es Gefängnisse braucht, denn es braucht ja in einer Gesellschaft etwas, das wartet, wenn eine Person sich nicht an Recht und Gesetz hält oder andere verletzt. Diese Begründung ist keineswegs falsch. Es ist in einem demokratischen Staat essenziell, zu begründen, warum der Staat Menschen die Freiheit entzieht: Mit der Freiheitsstrafe soll Schuld ausgeglichen und ein begangenes Unrecht gesühnt werden. Im Blick auf die Zukunft sollen weitere Gewalttaten präventiv verhindert und die Tatverantwortlichen resozialisiert werden. Es sind also mindestens zwei Perspektiven, die staatliches Strafen rechtfertigen: Schuldausgleich für die Tat in der Vergangenheit und Prävention für die Zukunft. Das alles passiert zwischen dem Staat, vertreten durch die Justiz, der den Rechtsbruch ahndet, und der tatverantwortlichen Person. Sie merken schon: Staat und Täter – die geschädigte Person spielt hier keine Rolle, allenfalls als Nebenkläger:in. Das hat gute Gründe, denn wenn Opfer die Strafhöhe bemessen, ist das womöglich befriedigend für sie, aber überhaupt nicht mehr gerecht. Es ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, dass Taten von unabhängigen Gerichten verurteilt werden, denn ein gerechtes Verfahren verhindert im schlimmsten Fall Blutrache oder Lynchjustiz.

Der Justizvollzug wiederum ist die Institution, die die verhängte Freiheitsstrafe vollzieht – der Name sagt es bereits. Für den Vollzug selbst stellt sich demnach nicht die Frage, warum gestraft wird, sondern vielmehr die, wie das Urteil der Justiz vollzogen wird. Der Justizvollzug straft selbst nicht mehr, denn das ist durch den Freiheitsentzug bereits erledigt. Er darf auch gar nicht mehr zusätzlich strafen. Die Ziele bzw. Aufgaben des Justizvollzugs regelt das

Strafvollzugsgesetz, das in jedem Bundesland etwas unterschiedlich ist, aber dennoch zwei Pole hat: Die Resozialisierung der Tatverantwortlichen und die Sicherheit der Allgemeinheit.

Ich mag es nicht zu kompliziert werden lassen, aber das ist schon eine Herausforderung für das Gehirn. Man schließt Menschen aus der Gesellschaft aus, um sie letztlich wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Sie sollen zu einem Leben in sozialer Verantwortung und ohne weitere Straftaten befähigt werden, eben resozialisiert werden, indem sie von jeglicher sozialen Einbindung in ihr Umfeld gelöst werden. Ein Beispiel für diese paradoxe Situation: In Bayern stehen den Inhaftierten monatlich insgesamt zwei Stunden Besuchszeit zu, manchmal auch drei, um den Rückhalt und die Verbindung zu ihren Freund:innen und Verwandten nicht zu verlieren. Sie haben schon richtig gehört: Zwei bis drei Stunden im Monat. Telefonate oder gar Internetzugang sind in aller Regel in Bayern nicht vorgesehen, wobei die Corona-Pandemie hier einiges verändert hat. Häufig bleibt als Kontaktmöglichkeit der gute alte Brief. Lange konnte ich mir nicht vorstellen, was das wohl heißt, überhaupt isoliert zu sein, bis die Corona-Pandemie kam. Ich weiß nicht, wie eine solche Situation zu ertragen ist, ohne unmittelbaren Kontakt zu denen zu haben, die mir am Herzen liegen.

Dem Vollzugsziel der Resozialisierung gegenüber steht die Sicherheit. Sicherheit will die Verteidigung vor einer vermutlichen und in der Zukunft liegenden Verletzung erreichen. Und so ist sie ein Phänomen, mit dem nie „fertig“ werden kann, sie lebt von einer Bedrohung, die noch unbekannt, allenfalls prognostizierbar ist. Und damit ist mit ihr wahnsinnig gut Politik zu machen, weil sie mit Angst verknüpft ist. Ein Altbundeskanzler sagte doch vor vielen Jahren, man solle Straftäter wegsperren – für immer. Und manch eine:r wird bei sich gedacht haben, dass das wohl viele Probleme lösen würde.

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass der Wunsch, alle Menschen, die gegen Gesetz und Ordnung verstoßen haben und verurteilt wurden, für immer hinter Gitter zu sperren, nicht nur menschenunwürdig ist, sondern auch teuer und unrealistisch. Und trotzdem ist es bequem, diese Menschen nicht zu sehen und die Augen davor zu verschließen, dass sie irgendwann zurückkehren. Neue Justizvollzugsanstalten entstehen häufig außerhalb der Stadt, in Würzburg liegt die JVA im Industriegebiet. Die Gesellschaft sichert sich ab mit hohen Mauern oder vielen Kilometern Feld und Wiese um die Inhaftierten herum. Die meisten Menschen kommen jedoch statistisch irgendwann wieder zurück in unsere Gesellschaft, auch wenn der so genannte „Drehtüreffekt“ – raus aus der Anstalt und direkt wieder hinein – häufig ist.

Die Logik einer JVA, das wollte ich deutlich machen, folgt also vornehmlich dem Spagat zwischen Resozialisierung und Sicherheit. Auch wenn sich die im Gefängnis tätigen Mitarbeitenden noch so sehr um die so genannte „Behandlung“ bemühen, wird die Institution immer mit dem Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit entgegenhalten. Dies ist auch der Überforderung geschuldet, die die Unterbringung von Menschen mit weitestgehend schwierigen sozialen Hintergründen und Biographien mit sich bringt. Jedes stumpfe Messer wird da zur Gefahr und ich kann das Bedürfnis nach Ordnung auch irgendwie verstehen, denn es gibt in Gefängnissen wohl nichts, was es nicht schon gegeben hätte. Schlicht muss man aber feststellen: Man schließt drei Schlupflöcher und es öffnen sich fünf neue. Sicherheit im Gefängnis ist eine Sisyphusarbeit.

Das ist die rechtliche und institutionelle Seite einer JVA. Für die Menschen, die „drinnen“ leben, stellen sich ganz andere Fragen. Außer Arbeit, dem Hofgang, einem kleinen Plausch mit den Kolleg:innen, Sport, vielleicht dem Gang zur Bücherei bleibt im Haftalltag nicht viel übrig, mit dem man sich ablenken kann. Neben der Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit, ihren eigenen Verletzungen, Schulden, körperlichen Problemen, Süchten, Ängsten, schwierigen Beziehungskonstellationen, kommt da immer wieder die Frage auch nach den Personen auf, die Schaden genommen haben. Ein Inhaftierter sagte einmal in einer Dokumentation: „Es ist, als würde uns ein Seil mit einem Knoten in der Mitte verbinden. Je mehr wir uns streiten und an beiden Enden ziehen, desto fester wird der Knoten. Und plötzlich haben wir keine Chance mehr, uns voneinander zu lösen.“

Im Vollzug gibt es keine Begegnung zwischen denen, die wir Täter oder Opfer nennen. Das ist als Problem erkannt worden und es wird inzwischen versucht, die Ebene zwischen Tatverantwortlichen und Geschädigten in den Vollzug mit hineinzunehmen: Den Geschädigten steht eine Auskunft darüber zu, wann die tatverantwortliche Person entlassen wird oder Ausgang hat. Inhaftierte nehmen an Programmen teil, die sie mit der Situation von Geschädigten konfrontieren, so genannten Opferempathieprogrammen. Es gibt Projekte für den so genannten Täter-Opfer- Ausgleich – ebenso während allen Phasen des Strafprozesses und auch während der Inhaftierung. Es geht darum, dass der Konflikt, die geschädigte Beziehung zwischen den Beteiligten gelöst werden kann, nicht nur auf gerichtlicher

Ebene. Die Betroffenen sollen direkt oder indirekt einen Ausgleich, eine Entschuldigung, eine Wiedergutmachung durch die Tatverantwortlichen erhalten. Auch das ist schwer vorstellbar und eine echte Zumutung. Und doch gibt es Untersuchungen und Erkenntnisse, dass solche Verfahren positive Effekte hatten: einen Dialog, eine Annäherung, ein tieferes Verständnis füreinander und in gelungenen Fällen weniger Angst und mehr Befreiung – auf beiden Seiten.

Was dem Gefängnis und dem ganzen Justizsystem allerdings im Großen und Ganzen fehlt, sind Orte, in denen Begegnungen und Dialog, soziales Lernen und Aushandeln möglich sind. Das gilt generell, aber insbesondere für die Begegnung zwischen den Beteiligten an einer Straftat. Es braucht viel Zeit, geschultes Personal, Räume und den politischen Willen, wirklich mit den Menschen zu arbeiten und sie nicht als Objekt der Behandlung zu begreifen. Straffälligkeit ist kein medizinisches Problem, dass man durch Behandlung heilen könnte. Leiden lindern können nur die Beteiligten selbst und zu einem anderen Menschen erziehen kann man sie schon gar nicht. Von Versöhnung will ich hier noch gar nicht sprechen.

Womöglich ist Ihnen deutlich geworden, dass Justizvollzugsanstalten eher nicht zu den Orten gehören, an denen ein geschützter Dialog so einfach möglich ist. In meiner Doktorarbeit versuche ich dennoch, diese beiden unvereinbar scheinenden Dinge zusammen zu bringen: Versöhnung und Gefängnis. Mir ist bewusst, wie voraussetzungsreich und gefährlich dieses Unterfangen ist. Der Justizvollzug ist ein Ort der Täter. Was bedeutet das für die Opfer? Wie kann man sicherstellen, dass Gespräche freiwillig und nicht mit dem Ziel einer Hafterleichterung geführt werden? Wie kann man verhindern, dass erneute Verletzungen, so genannte Reviktimisierungen stattfinden? Trotz dieser Bedenken versuche ich zu benennen, was es braucht, damit derartige Begegnungen und Aufarbeitungsräume ermöglicht werden können.

Grundlage eines Konfliktes ist ja, dass ein Mensch und damit eine Beziehung zwischen Menschen zutiefst verletzt wurde. Es sind Verletzungen entstanden, die zu besonderen Bedürfnissen geführt haben und passende Reaktionen oder Antworten erfordern. Es ist für mich als Außenstehende und Nicht-Betroffene nicht vorstellbar oder zu formulieren, was diese Bedürfnisse der Geschädigten, aber auch die der Tatverantwortlichen sind. Deshalb wird der Konflikt wieder in die Hände der Beteiligten zurückgegeben, wenn diese das möchten und können. Zuerst steht also die Freiwilligkeit aller Beteiligten und damit die Autonomie, also die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die unbedingt geschützt werden müssen. Die Beteiligten sagen, was sie brauchen und das ist in jedem Fall zu achten. Es muss in jedem Augenblick und von jeder Partei möglich sein, den Prozess zu unterbrechen oder abzubrechen. Nur wenn beide Seiten ihre je eigene subjektive Wahrheit, ihre Erlebnisse und Gefühle in geschütztem Rahmen erzählen können, ist ein erstes Verstehen und Aufeinander Zugehen möglich. Ohne Frage ist dieses Öffnen gefährlich, denn es macht anfällig für Verletzungen und viele geschädigte Menschen können nur schwer ertragen, sich ein weiteres Mal angreifbar zu machen.

Manchmal reicht es schon, wenn das Gegenüber erkennt, welchen Schaden er oder sie angerichtet hat. Manchmal hilft eine Erklärung der eigenen Not oder der Umstände, ohne die eigene Verantwortlichkeit dadurch zu schmälern. Eine Entschuldigung kann ungemein befreiend sein, insbesondere, wenn sie angenommen werden kann. Womöglich ist auch eine symbolische oder tatsächliche finanzielle Wiedergutmachung oder eine Hilfeleistung denkbar oder das Versprechen des Tatverantwortlichen, in eine andere Stadt zu ziehen, wenn er freikommt. Von Ferne sind manche Aushandlungen fast rührend marginal und doch helfen sie beiden Seiten, den beschriebenen Knoten zu lösen. Sie helfen, sich nicht immer weiter auseinander zu bewegen, sondern gemeinsam das Seil in einer Bewegung aufeinander zu so weit zu lockern, dass ein Öffnen des Knotens möglich ist.

In allen Fällen ist eine weitgehend neutrale Instanz, eine vermittelnde Person, sinnvoll, die ihrerseits keine Ansprüche geltend macht und allparteilich ist. Vielmehr ist jedes Ergebnis gut, was für die Beteiligten aus freien Stücken funktioniert.

Es wurde vermutlich mehr als deutlich, dass nach meiner Erfahrung mit dem Justizvollzug meine Zweifel daran immer größer werden, dass es innerhalb von Gefängnissen möglich sein wird, in großem Stil Dialogräume zu etablieren. Es liegt mir auch nicht, christlichen Zuckerguss über komplizierte Themen zu gießen und ihre Widerständigkeit damit zuzudecken. Trotzdem glaube ich, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie Schritte in diese Richtung gegangen

werden können, und dass es sich insbesondere aus einer theologischen Perspektive lohnt. Ich glaube tatsächlich, dass darin ein Funke einer Frohen Botschaft liegen kann, die es rechtfertigt, dieses Thema nicht nur als Vortrag, sondern als Predigt in einem Gottesdienst vorzutragen.

In der Vergangenheit haben Projekte der so genannten Restorative Justice, der wiederherstellenden Gerechtigkeit, erstaunliche Erfolge verzeichnen können. Desmond Tutu, anglikanischer Bischof in Südafrika, hat mit Nelson Mandela die so genannten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gegründet, um die Gewalttaten der Apartheit aufzuarbeiten. Es ging um hunderte Fälle von Folter und die grausame Ermordung von Schwarzen und Weißen. Die Spirale des Hasses und der Gewalt drohte immer weiterzugehen. Die Idee war, durch die ungeschönte Erzählung aller Betroffenen, die Wahrheit, und Ausgleichszahlungen sich von der Tabuisierung und gegenseitigen Schuldzuweisung zu entfernen. Und trotz der Ungeheuerlichkeit der Taten und dem unendlichen Leid der Betroffenen war es in vielen Fällen möglich, dass sich verfeindete Menschen wieder begegnen und annähern konnten.

Antrieb für Tutu war zuallererst die Zuwendung zu den Menschen und die Gewaltlosigkeit. Für ihn hieß Christ zu sein immer auch politisch zu sein und sich bei Ungerechtigkeiten einzumischen. Für ihn war klar, dass das, was passiert ist, nicht vergessen werden kann und darf. Vielmehr lag ihm daran, in der Erinnerung Brücken zwischen Menschen zu bauen, damit sich derartige Grausamkeiten und Konflikte nicht wiederholten und Heilung möglich werden kann.

Für mich als Theologin ist sein Charisma, aber insbesondere sein stetiges Ankämpfen gegen übergroße Windmühlen ein enormer Antrieb. Es geht darum, den und die Einzelne als Mensch im Blick zu haben, mit den Ressourcen und nicht nur den Defiziten. Ein Mensch, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist mit gutem Grund ein verurteilter Straftäter. Und doch liegt mir daran, diesen Menschen um seinetwillen, aber auch um der Gesellschaft Willen nicht abzuschreiben. Das darf die Betroffenen nicht ausklammern: Verletzungen bedürfen zunächst einer Versorgung der Wunde; Verletzte wiederum bedürfen, dass man sich ihrer annimmt und mit ihnen gemeinsam herausfindet, was ein Stück zu ihrer Heilung betragen kann.

Die christliche Botschaft ist dabei eine wichtige Ressource, die ermutigt, niemanden aufzugeben – weder die Verurteilten, noch die Verletzten. Natürlich muss ich mir anhören, dass realistisch betrachtet viele Fälle nicht gelöst werden können. Und doch ist jeder Fall, in dem es gelingt, ein großer Erfolg. Und häufig sind auch kleine Schritte, das Nachdenken und Umdenken durch einen Brief beispielsweise, schon lebensverändernde Ereignisse. Eine christliche Kernbotschaft ist für mich auch, dass im Kleinen häufig die größten Dinge passieren können.

Nicht zuletzt ist es für mich auch eine politische Frage, denn es ist wichtig, dass sich Christ:innen an die Seite derer stellen, die gesellschaftlich keine Lobby haben. Dies gilt für Inhaftierte, aber auch für diejenigen, die zum Opfer geworden oder gemacht worden sind. Ihnen Handlungsfähigkeit über ihr eigenes Leben zurückzugeben, halte ich für entscheidend, damit sie ihr Leben wieder selbständig gestalten können. Nicht umsonst sind Empowerment und Hilfe zur Selbsthilfe zwei wichtige Prinzipien von dialogischen Aufarbeitungsverfahren.

Wenn ich mir die heutigen Lesungstexte und den Predigttext ansehe, ist es eine große Herausforderung eine Brücke zu schlagen. Die Zusage des Trostes des Paulus an die leidenden Korinther kann ich in für die Auseinandersetzung gut brauchen. Aber das Samenkorn, das sterben muss, um zu leben, bereitet mir großes Kopfzerbrechen. Alle wollen Jesus sehen, weil er Lazarus auferweckt hat. Und dann macht er so eine Ansage: Hängt nicht am Leben, sondern setzt es auf’s Spiel. Für Menschen nach Gewalttaten ist das wohl nur schwer zu ertragen. Aber womöglich ist seine Botschaft, die Angst anzunehmen und loszulassen – und nach den Sternen zu greifen. In der Komfortzone passiert Versöhnung jedenfalls nicht.

Wir haben darum und dafür gesungen, wonach ich mich sehne: „The kingdom of God is justice and peace“, „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist. Komm, Herr, und öffne in uns die Tore Deines Reiches.“

Ich glaube, dass mit jedem Versuch, Verständnis und Annäherung zwischen den Beteiligten von Gewalt zu stiften, ein Schritt hin zu Versöhnung und Gerechtigkeit und damit zum Frieden getan ist. Die Bitte an Gott, in uns, in jedem Einzelnen von uns, diese Tore zu öffnen, stärkt mich, trotz aller Hindernisse und Unwägbarkeiten diesen Weg weiterzugehen und daran festzuhalten, dass ein besseres Morgen möglich ist.

“Die Meinen haben es getan!” 2. Fastenpredigt 2022

Pfarrer i.R. Gottlob Heß zitierte am 20.3.2022 in seiner sehr persönlichen erzählenden, berührenden Fastenpredigt: “Versöhnung in Europa” das Klagegebet des Aachener Bischofs Klaus Hemmerle (1929-1994), das 1988 – für den 50. Jahrestag der Pogrom-Nacht des Jahres 1938 – geschrieben wurde:

„Man hat meinem Gott das Haus angezündet und die Meinen haben es getan.

Man hat es denen weggenommen, die mir den Namen meines Gottes schenkten – und die Meinen haben es getan.

Man hat ihnen ihr eigenes Haus weggenommen – und die Meinen haben es getan.

Man hat ihnen ihr Hab und Gut, ihre Ehre, ihren Namen weggenommen – und die Meinen haben es getan.

Man hat ihnen das Leben weggenommen – und die Meinen haben es getan.

Die den Namen desselben Gottes anrufen, haben dazu geschwiegen – ja, die Meinen haben es getan.

Man sagt: Vergessen wir’s und Schluss damit.

Das Vergessene kommt unversehens, unerkannt zurück. Wie soll Schluss sein mit dem, was man vergisst?

Soll ich sagen: Die Meinen waren es, nicht ich? – Nein, die Meinen haben so getan.

Was soll ich sagen? Gott sei mir gnädig! Was soll ich sagen?

Bewahre in mir Deinen Namen, bewahre in mir ihren Namen, bewahre in mir ihr Gedenken, bewahre in mir meine Scham:

Gott sei mir gnädig“.

Bischof Klaus Hemmerle (1929-1994), 1988

Kurzer Rückblick auf das Wirken von Pfarrer Heß in Lauf: (Quellen von Uschi Höcht)

Im Februar 65 wurde Pfr. Gottlob Heß als (noch lediger) Pfarrer auf die 2. Pfarrstelle von Dekan Jäger eingeführt. Er wohnte in der Mühlgasse 11, da das Pfarramt umgebaut wurde und das Büro ins 2. Pfarrhaus umgesiedelt war.
Damit gab es in Lauf vier Sprengel und vier Pfarrer (Richter, Heß, Herold, Albrecht) , die über viele Jahre sehr gut zusammenarbeiteten und auch geistliche Gemeinschaft pflegten, zusammen mit ihren Ehefrauen. Gottlob Heß blieb 24 Jahre in Lauf. Seine Schwerpunkte:

Christus lieb machen:

Ökumene – Gespräche und Ökumenische Gottesdienste, später die ökumenischen Bibelwochen, bei denen Heß auch als Referent dabei war. Besuch der Katecheten in Benediktinerabteil 1973. Ein neuer Weg und großer Schwerpunkt von Pfarrer Heß damals: Gründung von Hauskreise. Auch wurde 1968 der erste ökumenischerBuß-und Bettag in Lauf von ihm initiiert.

Ehe und Familie waren ihm sehr wichtig – Intensive Kontakte zu familiy life mssion (Ehepaar Trobisch) Familienwochenende, Familienfreizeiten im Sommer und im Winter.

Konfirmandenarbeit unter Einbeziehung von Ehrenamtlichen

Begegnung mit evangel. Kommunitäten wurden durch Golo ermöglicht: u.a. Christusbruderschaft Selbitz, Gnadenthal, Ökumenisches Lebenszentrum Ottmaring, Christusträger, OJC, etc. 

Im Juli 1989 verließ Pfr. Gottlob Heß mit seiner Familie Lauf und wurde geistlicher Leiter des Ökumenischen Lebenszentrums in Ottmaring

Sein Nachfolger wurde Pfr. Richard Schuster. Heß selbst sage damals: “Die Boten kommen und gehen. Die Botschaft bleibt.”

Seine Botschaft ist unter uns lebendig geworden!

(Pfarrer JP Hanstein)

1. Fastenpredigt Rabbiner Nils Ederberg: Du sollst nicht töten

Reihe: Die 10 Gebote. Tun und Lassen im 21. Jhd.

am 1.3.2020 in der Johanniskirche

Hier können Sie die Predigt hören:

Unsere Reihe hat heute begonnen mit dem Rabbiner Nils Ederberg aus Berlin, der aus jüdischer Sicht auf den Dekalog schaute und besonders das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ auslegte. Der Gottesdienst war mit über 100 Teilnehmern gut besucht. Uns hat beeindruckt, dass die jüdische Sicht sehr am konkreten Alltag und dem Lebenspraktischen bleibt, während wir Christen oft sehr grundsätzlich, und eher philosophisch urteilen. Es war höchst interessant und spannend, besonders auch das anschließende Gespräch im Johannissaal, wo Fragen gestellt werden konnten und einfach diskutiert wurde. (Bilder JPH)

2. Fastenpredigt 2019 von Sr. Dorothea CCR zum Nachlesen

Schwester Dorothea Krauß, Schwester der Communität Casteller Ring predigt zum Thema „Das Kirchenjahr, eine Zeit voller Leben“ anlässlich der Fastenpredigt vom 31. März 2019 in der Johanniskirche Lauf.

Schwester Dorothea Krauß

Hier können Sie die Predigt nachlesen und auch herunterladen.