1. Wie geht Versöhnung auf jüdisch – Dr. Axel Töllner – Fastenpredigten Johanniskirche 2022

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

Dr. Axel Töllner

solange ich denken kann, ist einer meiner Lieblingschoräle Nun danket all und bringet Ehr von Paul Gerhardt. Besonders mag ich daran, dass er den ganzen Menschen und die ganze Welt mit Leib und Seele im Blick hat.

1. Und werf all Angst. Paul Gerhardt und Prophet Micha

Er gebe uns ein fröhlich Herz, erfrische Geist und Sinn und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz ins Meeres Tiefe hin.

Besonders ermutigend finde ich das Bild, dass Gott all das, was das Leben schwer macht, nicht einfach nur von Schultern nehmen soll. Nein, er soll es kraftvoll wegschmeißen, all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz ins Meeres Tiefe werfen, auf Nimmerwiedersehen dorthin, wo der Boden viele tausende Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Und dass das wirklich alle Lebensbereiche umfasst, das macht Paul Gerhardt in der nächsten Strophe klar:

Er lasse seinen Frieden ruhn auf unserm Volk und Land; er gebe Glück zu unserm Tun und Heil zu allem Stand.

In diesen Tagen, in denen mir das Herz so schwer ist wie Ihnen sicherlich auch, wenn ich die Bilder aus der Ukraine sehe und an die Menschen dort denke, dann hilft es mir, zu diesen Worten Zuflucht zu nehmen. Paul Gerhardt hat sie in einer von einem annähernd Dreißigjährigen Krieg verheerten Zeit gedichtet. Und wenn ich heute all die vom Krieg gezeichneten Menschen sehe, dann helfen mir die alten Worte aus Psalmen und Chorälen:

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme. Ja, bitte wirf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz ins Meeres Tiefe hin.

2. Rosch Haschana und Jom Kippur

Als ich vor knapp 30 Jahren als Student nach Jerusalem kam, bin ich auf besondere Weise dem Bibeltext begegnet, den Paul Gerhardt hier nachgedichtet hat.

Wir haben uns auf die Hohen Feiertage vorbereitet, mit denen im September oder Oktober das jüdische Jahr beginnt. Rosch Haschana, das Neujahrsfest, und zehn Tage später Jom Kippur, der Versöhnungstag. Das jüdische Jahr beginnt mit Besinnung und Umkehr. IN Jerusalem habe ich unter den biblischen Texten für diese Zeit die Sätze am Ende des Prophetenbuchs Micha entdeckt, die so kraftvoll von Gottes Barmherzigkeit erzählen. Seither gehören sie für mich zu den Worten der Bibel, die mir besonders kostbar sind:

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Liebe Gemeinde,

wo ist solch ein Gott, der seine Gerechtigkeit immer wieder zurückstellt, weil ihm seine Gnade wichtiger ist? Wo ist solch ein Gott, der seinen Zorn immer wieder versenkt in einem Meer der Barmherzigkeit? Wo ist solch ein Gott, der seinem Volk Israel immer wieder seine Treue beweist? Wo ist solch ein Gott, der diese Treue in seinem Sohn und Christus Jesus bestätigt?

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade?

Das Staunen darüber bestimmt eigentlich jeden Tag im Leben eines religiösen jüdischen Menschen und die täglichen Gebete. Und ganz besonders bestimmt es den Anfang des jüdischen Jahres. Das neue Jahr beginnt mit Buße und Versöhnung, und die Worte des Propheten Micha bringen den Grundton dieser Zeit zum Klingen.

Unser Vater, unser König, sei uns gnädig und erhöre uns, denn wir haben keine Werke, erweise uns Barmherzigkeit und Huld und rette uns.

So heißt es in einem der Gebete, die zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur in den Synagogen gebetet werden. In verschiedenen Variationen bringen die Gebete und Bekenntnisse dieser Zeit diesen Grundgedanken zum Ausdruck. Er durchzieht ja schon wie ein roter Faden die jüdische Bibel, die wir Christen als unser Altes Testament heilighalten. Der Prophet Micha greift diesen Faden auf und erinnert mit seinen Worten an zahlreiche Psalmenundan die Geschichte von der Barmherzigkeit, Gnade, Geduld und Treue Gottes mit seinem Volk Israel, allen Verfehlungen zum Trotz.

Am jüdischen Neujahrsfest gibt es den Brauch, zu einem fließenden Gewässer zu gehen und Brotkrumen oder anderes aus den Taschen zu schütteln und ins Wasser zu werfen, damit es die Brösel wegträgt und in die Tiefen des Meeres versenkt, wie Gott die Sünden versenkt. Und dabei spricht man die Verse des Propheten Micha.

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt

Am Schabbat zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur erklingen Michas Worte wieder – als besondere Prophetenlesung. Und am Nachmittag von Jom Kippur werden sie nach dem Jonabuch noch einmal gelesen.

Das eint uns, Juden und Christen: Wir wissen, dass wir vor Gott nichts vorzuweisen haben, und verlassen uns darauf, dass Gott sich treu bleibt und seine Güte alle Morgen neu ist. Ich habe noch im Religionsunterricht gelernt und bei vielen gelehrten Theologen gelesen, dass Juden sich mit eigenen Leistungen Gottes barmherzige Liebe erarbeiten wollten. Doch schon, wenn ich mich mit dem Anfang des jüdischen Jahres beschäftige, dann lerne ich:

In Wahrheit ist es ganz anders im Judentum. Einzig Gottes Großzügigkeit schafft den Raum für Versöhnung. Er beharrt nicht auf seinem Recht, weil kein Mensch perfekt ist, sondern Fehler macht, irrt, schuldig wird:

Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.

3. Gottes Großzügigkeit hat Folgen

 Für religiöse jüdische Menschen ist klar: Gott erwartet von uns, dass wir diese Versöhnung nicht als unseren Privatbesitz betrachten und ansonsten gleichgültig gegenüber uns unseren Mitmenschen leben.

Gottes Großzügigkeit hat Folgen. Die jüdische Lehre stellt unmissverständlich klar:

Der Versöhnungstag schafft alles aus der Welt, was zwischen Gott und Mensch steht. Aber das, was jemand an seinem Mitmenschen verfehlt hat, das müssen die beiden miteinander klären. Und das bedeutet: Wer an einem anderen Menschen schuldig geworden ist, muss ernsthaft Reue zeigen, sich aussprechen und versöhnen. Wer andererseits verletzt wurde, soll sich ein Beispiel an Gott nehmen und nicht auf seinem Recht beharren, sondern dem Menschen großzügig gegenüber sein, der seine Schuld eingesteht.

Als frommer Jude hat auch Jesus in der Bergpredigt dieses Prinzip bekräftigt: Niemand soll etwas im Tempel opfern, wenn er oder sie an einem Mitmenschen schuldig geworden ist. Jesus stellt klar:

In diesem Fall lass deine Opfergabe vor dem Altar liegen. Geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder oder deiner Schwester.

Und im Vater Unser lehrt er uns zu beten: … und vergib uns unsere Schuld, wie auch wie vergeben unseren Schuldigern.

4. Christliche und die jüdische Lehre/Praxis von der Buße und Umkehr

Bei vielen deutschen christlichen Theologen habe ich in der Zeit nach 1945 gelesen:

Ja, wir wissen, dass wir schuldig geworden sind, aber das ist eine Sache zwischen uns und Gott, und das gehört nicht an die Öffentlichkeit und nicht in die Ohren anderer Menschen.

Nein, so eben nicht!

Es ist wichtig, dass wir miteinander reden, dass wir unsere Schuld gegenüber denen bekennen, an denen wir schuldig geworden sind. Das ist nichts, was wir nur mit Gott oder in uns selbst ausmachen können.

Für die Versöhnung ist es zentral, die eigene Schuld gegenüber denen zu bekennen, die davon betroffen sind, und zwar ohne Ausflüchte zu nehmen, ohne irgendwas zu beschönigen.

In dieser Konsequenz sind sich die christliche und die jüdische Lehre von der Buße und Umkehr eigentlich im Grundsatz einig. Gottes Gnade ist ein Geschenk, aber sie ist keine billige Gnade, sondern Gott „wartet auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten“, so sagt es Dietrich Bonhoeffer.

Es trennt uns, woran wir Gottes Gnade und Barmherzigkeit festmachen – für jüdische Menschen ist die Zuwendung Gottes zum Volk Israel durch seinen Bund und die Erwählung zentral, für christliche Menschen die Zuwendung Gottes zur Gemeinschaft der Heiligen in seinem Sohn und Christus Jesus. Es trennen uns die Formen, die Formulierungen, mit denen wir unsere Sünde bekennen und unseren Glauben leben. Wir feiern unterschiedliche Feste, setzen verschiedene Akzente. Doch wir wissen beide, dass wir vor Gott am Ende nichts vorzuweisen haben, und wir vertrauen beide darauf, dass Michas Worte auch für uns wahr geworden sind und wieder wahr werden:

Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünde in die Tiefen des Meeres werfen.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Fürbitten

Heiliger Gott,

in Deiner Gnade und Treue gegenüber Deinem Volk Israel zeigst Du, welch ein Gott Du bist. Dafür preisen wir Dich.

In Deinem Sohn und Christus Jesus hast Du bestätigt, was Du Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel verheißen hast. Dafür rühmen wir Dich.

Zu Deiner Barmherzigkeit, Gnade und Geduld dürfen wir Zuflucht nehmen, dafür loben wir Dich.

Wir bitten Dich:

für alle Menschen, die in den Kriegen dieser Welt leiden, die sich verteidigen oder fliehen müssen und vor einer ungewissen Zukunft stehen. Besonders legen wir Dir die Menschen in und aus der Ukraine ans Herz,

für alle Menschen, die sich für Wahrheit, Recht und Mäßigung einsetzen und die sich mit Verhandlungen und Hilfeleistungen aller Art gegen Hass und für Versöhnung engagieren. Besonders legen wir Dir ans Herz die Journalistinnen und Journalisten, die Politikerinnen und Politiker, die Helferinnen und Helfer, die Menschen, die Verantwortung in Kirchen, Synagogen und religiösen Gemeinschaften übernehmen.

Wir bitten Dich auch

für diejenigen, die verstrickt sind in Schuld und Selbstgerechtigkeit. Besonders legen wir Dir die ans Herz, die noch nicht den Mut gefunden haben, ihr Herz und ihren Mund zu öffnen, um auf andere zuzugehen und ihnen offen ihre Schuld zu bekennen.

für diejenigen, die Gewalt erlitten haben, in Kirchen, religiösen Gemeinschaften, Familien oder anderswo. Besonders legen wir Dir die Frauen, Kinder und Männer ans Herz, die mit den Nachwirkungen an Leib und Seele kämpfen, die alleine dastehen und noch keine Gerechtigkeit erfahren haben.

Und wir bitten Dich

für die Menschen in unserer Nachbarschaft und in unseren Kirchengemeinden, die keinen Ausweg und keine Hoffnung sehen in ihren Ängste, ihrer Furcht, ihren Sorgen und ihrem Schmerz.

KASUALBITTEN

Was wir für uns selbst erbitten, erbitten wir mit den Worten, die Dein Sohn und Christus Jesus uns selbst gelehrt hat

Vater Unser

Beginn der Fastenpredigten in der Johanniskirche mit Axel Töllner

Wie seit vielen Jahren üblich, hat das Team der Johanniskirche Lauf für die Fastenpredigten das Thema „So geht Versöhnung“ schon vor einiger Zeit ausgewählt. Trotzdem hochaktuell: Wir fragen, wie „Versöhnung“ angesichts von Mord und Zerstörung in der Ukraine überhaupt möglich ist. In gewalttätige Eskalationen verwickelt, sehnen wir uns nach Vermittlung.

 Die Fastenpredigerinnen sind Zeitgenossen, stehen mitten im Leben, befragen realistisch die Erfahrung der Bibel und geben Orientierung durch ihre persönliche Anschauung.

Die Gottesdienste beginnen jeweils um 9.30 Uhr in der Johanniskirche. Danach ist Zeit für eine persönliche Begegnung mit unseren Fastenpredigerinnen beim Kirchencafé im Johannis-Saal oder auf dem Kirchenplatz. Alle Gottesdienste werden besonders musikalisch ausgestaltet.

Sonntag, 13.03. Reminiscere

„So geht Versöhnung – auf jüdisch!” mit Axel Töllner


Dr. Axel Töllner ist landeskirchlicher Beauftragter in der ELKB für den christlich-jüdischen Dialog und war einmal Vikar in Lauf. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen der Region zu diesem Thema. Musik von Dagmar Brandt und Silke Kupper. Anschließend Kirchencafe.



Sonntag, 20.03. Okuli

“So geht Versöhnung – in Europa!” mit Pfarrer i. R. Gottlob Heß

Pfarrer i.R. Gottlob Heß war Pfarrer in Lauf und ist Mitglied des „Ökumenischen Lebenszentrums in Ottmaring“ (Augsburg). In Ottmaring „lernt“ man, wie sich Einheit in Vielfalt ereignet. Das Lebenszentrum hat Jahrzehnte der Erfahrung von Versöhnung in der Ökumene Europas. 

Sonntag, 27.03. Lätare „So geht Versöhnung – im Strafvollzug!” mit Mag. Theol. Katharina Leniger. Musik von den Stadtstreichern.

Katharina Leniger stammt aus Lauf, studierte Musik und katholische Theologie und ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Lehrstuhl für Christliche Sozialethik in Würzburg. Sie promoviert zur Rolle der Versöhnung für die Resozialisierung (Ethik im Justizvollzug).